Die Leute fragen mich, ob sie ihre Reise nach Katalonien umbuchen sollen. Ob Barcelona noch sicher ist. In den Nachrichten folgt eine schlimme Meldung der anderen. Das alles macht mich einfach nur noch traurig. Wie konnten wir bloß an diesen Punkt kommen?

Seit Jahren versuche ich, die Menschen hier zu verstehen und meinen Lesern in Deutschland zu erklären, was in Katalonien passiert. Es ist eine Entwicklung mit Ansage. Vor mehr als vier Jahren schrieb ich bereits einen Artikel zu diesem Thema, als der Ruf nach Unabhängigkeit bereits sehr laut wurde. Jetzt ist er endgültig nicht mehr zu überhören. Musste es so weit kommen?

Nach dem gestrigen Tag ist nichts mehr wie vorher. Das Referendum über die Unabhängigkeit vom 1. Oktober wurde von der Regierung in Madrid vorab für illegal erklärt und sollte, so die Regierung in Barcelona, dennoch stattfinden. Nun hat es stattgefunden und über achthundert Menschen sind dabei verletzt worden. Jetzt herrscht Wut. Die Stimmung ist vergiftet und die Gesellschaft gespalten. Alle Brücken zu einer friedlichen Lösung, zu einem vernünftigen Kompromiss, scheinen abgerissen.

Ich hoffe auf die Vernunft der Politiker, nicht noch mehr Öl ins Feuer zu gießen, sich gemeinsam an den Tisch zu setzen, um nach Lösungen zu suchen. Stures Beharren auf alten Positionen hilft den Menschen nicht weiter. Und auf friedliche Bürger in aggressivster Weise einzuprügeln ist einfach nur eine Schande.

Die Katalanen hoffen auf Europa. Doch was kann Europa tun? Europa ist ja selbst bedroht durch die Spaltung ihrer Mitgliedsländer. Die Situation ist schlimm. Viele Werte einer Gesellschaft, wie das friedfertige Miteinander, die Toleranz der Andersdenkenden, das gegenseitige Helfen und Solidarität sind wie weggefegt. Jeder ist sich nur noch selbst der Nächste.

Können wir bitte, bitte aufhören, alles kaputtzumachen, was unsere Eltern friedlich aufzubauen versucht haben? Eigentlich bin ich nur noch traurig. Was passiert nur mit der Welt und den Menschen? Wohin sind die Werte wie Toleranz und Solidarität verschwunden? Was ist passiert, dass plötzlich jeder nur noch an sein eigenes Wohl denkt. Ist unsere Gesellschaft nur noch ein Geschäft, bei dem jeder nur daran denkt, wie viel Gewinn sie ihm bringt?

Nationalismen sprießen in allen Ecken der Welt aus dem Boden wie giftige Pilze, die wir einst ausgerissen und weggeworfen haben. Doch in den Ecken haben sie neue Wurzeln geschlagen und kommen wieder, stärker denn je.

Offensichtlich sind “teilen” und offen auf Andersdenkende zuzugehen keine dem Menschen angeborenen Eigenschaften, sondern müssen mühsam gelernt werden und können auch schnell wieder vergessen werden.

Es rumort in dieser Welt nicht nur dort, wo die Leute arm sind und um das pure Überleben kämpfen. Auch da, wo eigentlich alle satt sind und in Sicherheit leben, wächst der Unmut. Viele haben sich selbst versklavt, um die Schulden für das Haus, das Auto, die Jacht oder welchen Luxus man sich auch immer gönnt, abbezahlen zu können, und nun entsteht plötzlich Unzufriedenheit.

Aber statt sich zusammenzuschließen und gemeinsam an etwas zu arbeiten, zerschießen wir gerade Europa. Die Briten kicken sich selbst aus der EU, etliche Mitgliedsstaaten halten sich nicht an die Abmachungen bei der Aufteilung der Flüchtlinge und die Katalanen arbeiten in blindem Eifer daran, sich selbst aus Europa herauszuschleudern, während der spanischen Regierung nichts anderes einfällt als Andersdenkende zu verprügeln wie in einer Diktatur. Europa zerfällt. Und mit Europa unsere Gesellschaft. Soziales Miteinander war gestern.

Bloß keine Flüchtlinge aufnehmen, bloß kein Vermischen mit Menschen, die an einem anderen Ort geboren wurden, eine andere Sprache sprechen oder anders denken als ich. Dabei hat verbohrtes Abschotten so weit ich weiß noch nie in der Geschichte der Menschheit zu irgendetwas Gutem geführt!

Kann es sein, dass das System, das auf ewiges Wachstum ausgelegt ist, wie ein Krebsgeschwür langsam seinen Wirt auffrisst? Wir zerstören unsere Gesellschaft gerade selbst vor lauter Gier und merken es nicht einmal.

In Katalonien mischt sich ein auf kultureller Andersartigkeit beruhender Patriotismus gerade mit einer hochexplosiven Unzufriedenheit mit der korrupten Regierung. Die allermeisten Katalanen haben nichts gegen „Spanien“. Fast jeder Katalane hat einen Verwandten in Andalusien, Galizien, in Murcia oder im Baskenland. Aber sie sehen offenbar keinen anderen Weg die spanische Regierung „abzuwählen“. Das bunte Miteinander der verschiedenen Regionen, in dem jeder seine Andersartigkeit leben darf, könnte doch eigentlich gut funktionieren. Wenn da nicht eine korrupte Regierung wäre, die scheinbar nicht mitkriegt, dass wir mittlerweile das Jahr 2017 schreiben.

Aber gibt es nicht doch andere Möglichkeiten die Korruption zu bekämpfen als neue Grenzen zu errichten und Mauern zu bauen? Eine Demokratie ist langsam und erfordert Geduld und Arbeit, mühsame Arbeit. Kann man nicht versuchen, das Wahlrecht zu ändern? Aufklärungskampagnen gegen Korruption starten? Versuchen, die Leute auch in den hintersten Winkeln des Landes zu erreichen?

Gefühle kochen hoch und die sollten eigentlich in der Politik nichts zu suchen haben. Politische Entscheidungen sollte man mit kühlem Kopf und Blick auf die Zukunft fällen. Ich bin gegen Nationalismen, und gegen neue Grenzen. Stattdessen wünsche ich mir, dass sich die Menschen vernüftig und sachlich auseinandersetzen, damit das Ziel eine friedliche, gerechte und stabile Gemeinschaft sein kann. Wenn wir nicht mehr miteinander reden können, dann haben wir leider alle verloren.