Gerade ein Jahr ist es her, dass ich den Irati zum ersten Mal gesehen habe. Ein Wald dachte ich, na und? Davon gibt es in Deutschland genug. Aber diese grüne Einsamkeit hat mich so sehr beeindruckt, dass ich nun schon wieder hier bin, um noch mehr Wege durch die Selva Irati zu erkunden.
Cascada de Cubo inmitten der Selva Irati
Dieses Mal habe ich Michi mitgenommen und er ist mindestens genauso fasziniert von dieser freundlichen Landschaft, den sanften, grünen Hügeln, den baskischen Mythen und den Menschen in dieser stillen Gegend. Ich glaube fast, er ist sogar noch begeisterter, als ich bei meinem ersten Besuch hier war, denn er hat seine Pfadfinder-Mentalität wiedergefunden und sich allein auf kleine Abenteuer- und Entdeckungstouren begeben, während ich wandern war.
Wandern durch den Bosque de Ursario
Meine erste Wanderung startet am Refugio de Azpegui, kurz hinter der Fábrica de Orbaitzeta. Jose und Gustavo begleiten mich, denn sie kennen sich hier aus und erzählen mir unterwegs, was wir da alles entdecken. Gleich zu Beginn unserer kleinen Wanderung erheben sich rechts und links grüne Hügel. In der Ferne können wir den Urkulu Turm erkennen, eine Ruine, von der man nicht mehr sicher sagen kann, ob sie römischen Ursprungs ist oder nicht. Die Etappe des Jakobswegs, die von Saint-Jean-Pie-de-Port über die Grenze nach Roncesvalles führt, liegt hier ganz in der Nähe und an einer Stelle können wir sogar den Leopoeder sehen, einen Gipfel der als anspruchsvoll und nicht ungefährlich gilt. Im Winter ist diese Strecke fast immer gesperrt. Die meisten Pilger starten daher ihre Wanderung gleich auf der anderen Seite der Pyrenäen, in Roncesvalles.
Unser Weg führt quer über eine Weide an grasenden Kühen vorbei zu einem Waldstück, dem Bosque de Ursario. Durch die klare, saubere Luft und die hohe Feuchtigkeit verwandeln grüne Moose und bizarre Flechten an den Stämmen, Steinen und Wurzeln die Bäume um uns herum in einen Zauberwald.
Alles ist dicht mit einem weichen Teppich überzogen. Kein Wunder, dass sich in diesem Teil der Pyrenäen uralte baskische Mythen bis heute gehalten haben. Immer wieder bleibe ich stehen, um mir dieses weiche Fell aus grünem Moos genauer anzusehen. Auch die Nacktschnecken freuen sich über die Feuchtigkeit und klettern hier sogar an den Stilen und Blättern der gelb und lila blühenden Wildblumen empor. Der einzige Nachteil von so viel Wasser ist, dass man sich ständig einen Weg durch schlammige Pfützen bahnen muss. Doch nasse Füße nehme ich gerne in Kauf, denn die Glückshormone führen bei so viel Schönheit wieder einen Freundestanz auf und lassen mich wie ein Kind mit glücklichem Staunen durch die Gegend spazieren.
Nachdem wir eine Weile durch diese gute Stube von Mutter Natur gewandert sind, erreichen wir den Waldrand und einen asphaltierten Weg. Gleich hinter der nächsten Kurve liegt Frankreich. Für die Menschen im Aezkoa Tal war und ist das französische Örtchen Saint-Jean-Pied-de-Port kulturell und auch geografisch näher, als Pamplona. Die Verbindungen der Menschen in den Tälern reichen viele Jahrhunderte zurück.
Im Wasser einer Tränke für weidende Kühe und Pferde spiegeln sich die umliegenden Berge. Ein paar Schritte vor uns lässt sich ein unbeeindruckter Hengst nicht bei einem kurzen Liebesakt stören. Diese muskulösen Tiere mit ausladenden Hinterteilen sind nicht zum Reiten gedacht, sondern werden irgendwann zu Wurst und Schnitzeln verarbeitet. Doch noch genießen sie die Freiheit der grünen Weiden.
Silberdiesteln gedeihen hier prächtig. Überall lugen sie zwischen den Steinen hervor. Noch sind sie grün und haben keine Blüte ausgebildet. Doch in der baskischen Mythologie spielt diese Blume, die Eguzkilore, eine wichtige Rolle, denn sie gilt als Schutz vor bösen Geistern. In den Bergen schmücken heute noch viele Menschen ihre Eingangstüren mit dieser getrockneten Blume, denn angeblich soll die Eguzkilore verhindern, dass Hexen bei Nacht ein Haus betreten. Der Anblick der Blüte mit ihren unzähligen Haaren verführt Hexen angeblich dazu, jedes einzelne Haar zu zählen. Da es so viele sind, bricht der Morgen an, ehe sie mit dem Zählen fertig sind.
Immer wieder überqueren wir kleine Bäche, die später im Sommer verschwunden sein werden. Im Frühjahr sprudelt das Wasser überall aus dem karstigen Boden. Manchmal erinnert die Landschaft eher an die Heide, an Schottland oder Irland als an die Pyrenäen.
Als wir einen Menhir erreichen, lenkt Jose uns vom markierten Pfad, ein Stück auf die offene Wiese hinunter. Unglaublich, aber nach nur wenigen Schritten eröffnet sich ein fantastischer Blick auf einen mäandernden Bergbach, den Loigorri, der hier entspringt. Wäre der Boden nicht so nass und feucht, ein perfektes Plätzchen, um sich auf die grüne Wiese zu legen.
Chromlechs de Azpegui
Wir durchqueren nochmal ein Stück des Waldes, durch den wir vorhin gelaufen sind, laufen nun aber an einem vom Blitz getroffenen Baumstamm weiter über die Wiese, geradeaus auf die sich in der Ferne erhebenden Gipfel zu. An einem Dolmen vorbei erreichen wir nach 700 Metern die Chromlechs de Azpegui, zwei prähistorische Steinkreise. Diese Felsbrocken wurden hier vor mehreren Tausend Jahren als Begräbnisstätte platziert. Im Unterschied zu den vielen Dolmen, die sich in der Gegend von Azpegui finden, waren die Chromlechs ein kollektives Grab, in dem mehrere Personen beigesetzt wurden. Doch viele Fragen sind nach wie vor offen. Die Wissenschaft hat bis heute nicht klären können, welchem Glauben die Kulturen anhingen, die diese Steinkreise errichteten, welche Gottheiten sie verehrten. Vielleicht beging man an dieser Stelle noch andere Riten, als die Beisetzung von Familien- oder Clanangehörigen?
Wir folgen der kleinen Straße zwei Kilometer weiter bis zur Grenze, die schlicht und einfach durch einen großen Stein mit der Nummer 212 gekennzeichnet ist. Hier erhebt sich ein vollständiger Steinkreis vor einem unglaublich schönen Panorama. Jose erzählt, dass er vor ein paar Jahren daran beteiligt war, dieses Monument zu errichten, denn der Cromlech de Orgambide, einer der schönsten Steinkreise der Umgebung, stammt gar nicht aus der Frühgeschichte, sondern ist als eine Art Denkmal gedacht, das an die Traditionen und die Geschichte der Menschen in den benachbarten Tälern zu beiden Seite dieser Grenze erinnert. Eingravierte Symbole und die Namen Aezkoa und Garazi (baskischer Name des Pays de Cize) erinnern an jahrhundertealte Bräuche. Bis heute kommen hier oben Viehzüchter und Hirten aus Spanien und Frankreich zusammen, um am Día de la Facería feierlich einen 500 Jahre alten Pakt zur gemeinschaftlichen Nutzung der Weiden zu erneuern.
Obwohl ich schon total begeistert bin und wieder einmal mit einem glücklichen Dauergrinsen versuche, diesen Anblick in Fotos festzuhalten, wollen Jose und Gustavo mir noch etwas zeigen. Ein schmaler Weg führt direkt an der Grenze entlang zur Cueva Arpea, einer Höhle, die so einsam in sattgrünen Hügeln verborgen liegt, dass ich selbst kaum glauben kann, dass wir hier noch in Spanien sind. Norwegen, Irland oder die schottischen Highlands breiten sich vor mir aus. Ein Trampelpfad führt an einer verlassenen Hütte vorbei zur Höhle. Der Weg dorthin ist wesentlich spektakulärer als die Cueva an sich. Gerade als wir uns in der felsigen Behausung umsehen, bricht ein Regenschauer über uns herein. Doch zum Glück ist es genauso schnell vorbei, wie es aufgetaucht ist.
Fábrica de Orbaizeta
Wieder zurück am Auto müssen wir natürlich der Fábrica de Orbaitzeta einen Besuch abstatten. Die Ruine einer alten Munitionsfabrik liegt direkt an der Straße, sodass man schon vom Weg aus die Überreste des alten Gemäuers bestaunen kann. Nebenan erklärt ein kleines Museum auf mehreren Etagen die Geschichte der Fabrik, die 2008 zum Kulturgut erklärt wurde, die Besonderheiten der Natur des Tals und wie die Menschen hier in früheren Jahrhunderten lebten.
Errichtet wurde diese Fabrik inmitten des Irati 1784 auf dem Grund und Boden der Gemeinde des Aezkoa Tals. Dank des reichen Vorkommens an Eisen, Mineralien, Wasser und Holz diente die Anlage viele Jahrzehnte lang als Eisenschmiede und zur Bombenproduktion. In zahlreichen kriegerischen Auseinandersetzungen lieferte die Fabrik den Truppen die notwendige Munition. Doch das Tal litt unter den ständigen Plünderungen und Brandschatzungen. Zweihundert Jahre lang kämpften die Menschen darum, die Ländereien und die Nutzungsrechte, die die spanische Regierung unter der Herrschaft der Königin Isabel II den Bauern unter zweifelhaften Bedingungen abgeknöpft hatte, wiederzuerlangen. Erst in den 80er Jahren gelang es, die im 18. Jahrhundert an die Krone abgetretenen Rechte zurückzuerlangen. Nach der Zerstörung der Fabrik 1814 begann man einen teilweisen Wiederaufbau der Gebäude, bis sie gegen Ende des Jahrhunderts endgültig aufgegeben wurde und die Natur sich der alten Mauern bemächtigte.
Ein Teil der Munitionsfabrik ist so baufällig, dass er aus Sicherheitsgründen gesperrt wurde, doch den Rest der verlassenen Anlage kann man heute noch begehen. Mehr als 150 Arbeiter lebten hier früher mit ihren Familien. Die Hitze der Brennöfen muss enorm gewesen sein. Am beeindruckendsten ist der Blick auf die den Kanal des Río Legartza. Doch die Stelle, von der aus vor Jahren das vermutlich bekannteste Foto der Ruine geschossen wurde, ist leider nicht mehr erreichbar. (Bitte gar nicht erst versuchen, lieber mit gutem Beispiel vorangehen und die Vorsichtsmaßnahmen ernst nehmen, denn das nächste Krankenhaus ist weit entfernt). Mir gelingen ein paar ungefährliche Erinnerungsfotos von der Galerie aus.
Zum Abschluss unseres Natur- und Abenteuerausflug knurrt uns allen der Magen. In der Iratiko Eskola Taberna im nahe gelegenen Örtchen Orbara, stürzen wir uns daher hungrig auf den leckeren Bohneneintopf, die Potxas de Navarra. Ich ärgere mich jetzt noch, dass ich die Tarta Vasca nicht mehr zum Nachtisch probiert haben, denn Michi hat auf seinem Ausflug diesen traditionellen Kuchen bestellt und schwärmt immer noch davon. Damit es dir nicht so geht wie mir, ein wichtiger Tipp: So lecker das Mittagessen auch sein mag, halte dir auf jeden Fall eine bisschen Platz für dieses Dessert frei!
Informationen zum Valle Aezkoa
Das Valle Aezkoa ist ein Nachbartal des Valle Salazar, das sich quer zu den Pyrenäen durch den Irati erstreckt. In nördlicher Richtung grenzt das Tal auf französischer Seite an das Valle de Cize, im Osten liegt Roncesvalles. Die Sprache des Tals ist Aezkera, eine Variante des „Standard“-Baskischen.
Website des Valle Aezkoa
Fábrica de Orbaizeta
Kultur Ola (Museum mit Cafeteria)
31670 Fábrica de Orbaitzeta
geöffnet in den Sommermonaten und an den Wochenenden
Iratiko Eskola Taberna
Plaza Pablo Eguinoa,
31671 Orbara
Übrigens:
Euskal Herria ist die Bezeichnung aller Regionen baskischer Kultur und Sprache zusammen genommen. Dazu zählt neben Euskadi, mit den drei Provinzen Gipuzkoa, Biskaia und Álava, auch der nördliche Teil Navarras und der südliche Teil der zu Frankreich zählenden Basse Navarre.
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