Es ist Dezember. Am Morgen ist der Himmel grau und wolkenverhangen. Laut Wettervorhersage, soll gegen Mittag die Sonne durchkommen. Ein perfekter Tag für einen Ausflug nach Canet de Mar. Ich liebe es, im Winter an die Küste zu fahren. Dann sind die Strände der kleinen Dörfer leer und die Menschen gehen ihrem Alltag nach. Etwas oberhalb von Canet de Mar, im Grünen versteckt, liegt eine wunderschöne, mittelalterlich anmutende Burg, das Castell de Santa Florentina. Dort will ich meine Erkundungstour durch Canet beginnen.
Während wir von der Eingangspforte aus auf das Castell zugehen, das vor neugierigen Blicken verborgen hinter dichtem Grün erst langsam zum Vorschein kommt, beginnt Gloria (die sehr liebe Burgführerin), mir die Geschichte dieses imposanten Bauwerks zu erzählen. Schon zur Zeit der römischen Herrschaft befand sich hier eine Vila Romana. Im 11. Jahrhundert errichtete man dann an der Stelle des Domus eine befestigte Masia, die ab dem 14. Jahrhundert von zwei mächtigen Türmen begleitet wurde, denn vermutlich diente der Gutshof in unruhigen Zeiten auch als Festung. Mehrmals wechselte die Anlage die Besitzer, bis schließlich der erste Montaner, nämlich Felipe Montaner, Haus und Grundstück erwarb.
Im 19. Jahrhundert gehörte das inzwischen verlassene und schon etwas heruntergekommene Gebäude schließlich seinem Nachfahren Ramon Montaner i Vila. Um das Anwesen wieder herzurichten und zu vergrößern, beauftragte er seinen Neffen, einen Architekten, mit dem Umbau nach seinen Wünschen. In einer Zeit, in der in Katalonien die glorreiche Pracht des Mittelalters verehrt wurde und katalanische Literatur und Sprache auflebten (Renaixença), waren Burgen plötzlich total angesagt. Wer es sich leisten konnte, baute eine. Und je mittelalterlicher sie wirkte, umso besser. Da der besagte Neffe Montaners kein anderer war, als Lluís Domènech i Montaner, einer der modernistischen Star-Architekten, von dem u.a. die Entwürfe des Palau de la Música Catalana und des Hospital Sant Pau in Barcelona stammten, wurde aus der von Weinstöcken umgebenen Masia eine moderne Burg im mittelalterlichen Stil.
Der Eingang zur Burg liegt seitlich, denn, so Gloria, die alte, befestigte Hofanlage sollte bei der Erweiterung so gut wie möglich erhalten bleiben. Die neben den schlanken Zypressen auf eisernen Ketten stehenden Löwen sollen die Gäste am Eingangstor willkommen heißen. Ende des 19. Jahrhunderts war es unter den Modernisten nicht ungewöhnlich, Torbögen, Fenster, Türen oder andere, besonders schöne antike Bauteile zu kaufen und sie wiederzuverwenden. Eine besondere Art des Recyclings, die auch hier zum Einsatz kam. Als in Barcelona ganze Straßenzüge abgerissen wurden, um Platz für neue Gebäude zu schaffen, konnte ein schöner Torbogen mit gut sichtbarem Vítor Symbol (rote, buchstabensuppenartige Graffiti, mit denen Universitätsabsolventen im 14/15 Jhd. ihren Abschluss feierten) hier eine neue Heimat finden. Die Lettern EVA waren allerdings nicht der Name einer Doktorandin, sondern vermutlich die Initialen eines männlichen Studenten.
1909, so steht es über den Eingang, wurde das neue alte Castell de Santa Florentina fertiggestellt. Sobald wir den Torbogen durchschritten haben, befinden wir uns im Burghof. Den ungewöhnlichen Grundriss verdankt dieser Innenhof dem Anbau, denn um die Galerie auf der Längsseite zu gestalten, nutzte Domènech i Montaner das Klaustrum des Monestirs Priorat del Tallat. Eine breite Treppe im gotischen Stil führt zu dem hübschen Säulengang hinauf. Der Anblick des Burghofes ist wirklich märchenhaft. Reife Orangen strahlen an den kleinen Bäumen zwischen den mächtigen steinernen Mauern wie kleine Wintersonnen. Der Himmel zeigt sich leider noch immer ziemlich grau, aber auch so bin ich schwer beeindruckt und kann mir gut vorstellen, wie dieser Hof auf die Besucher gewirkt haben muss.
Aber nicht nur ich bin beeindruckt. Auch Filmemacher, wie die Produzenten der Serie Game of Thrones, lieben diese Burg offenbar, denn 2015 wurden Teile der 6. Staffel der weltbekannten Serie hier gedreht: Das Castell de Santa Florentina wurde zu Hornberg, dem Sitz des Hauses Tarly von Hornberg (House Tarly of Horn Hill). Als Sam Tarly, der treue Freund Jon Snows, nach Hause kommt, wird er hier im Hof von seiner Mutter empfangen. Nun schreite auch ich die breiten Stufen hinauf zur Galerie und kann es kaum erwarten, das Innenleben der Burg zu erkunden.
Gloria führt mich durch die einzelnen Säle und Gemächer. Der prachtvolle Thronsaal wird von einem großen Kamin beherrscht, in dessen Aufsatz eine fein gearbeitete Figurengruppe an die erste freie Versammlung des Stadtrats von Canet erinnert. An der hinteren Wand zeigt ein überdimensionales Gemälde die Legende der Entstehung der Senyera, des katalanischen Wappens, und unter der bunt gearbeiteten Decke wachen wunderschöne Drachen zwischen den Holzbalken.
Wir durchqueren das einstige Herrenzimmer, den späteren Speisesaal, mit einer beeindruckenden Kuppel unter der Decke. Möglicherweise, doch bislang nicht nachgewiesen, könnte sie von Antoni Rigalt i Blanch stammen, der auch die Cúpula im Palau de la Música Catalana baute. In den hinteren Gemächern befindet ein Bett, in dem König Alfonso XIII bei einem Besuch in Canet übernachtet hat, was damals als eine große Ehre empfunden wurde. Natürlich gibt es hier auch einen anständigen Weinkeller mit großen Holzfässern, aber der Hammer ist das Badezimmer. Modernistisch kitschig, bunt und voller Blumenornamente, weiß man gar nicht wohin man zuerst sehen soll. Damals galt diese Überladenheit als schön und rein technisch gesehen war es das Neuste vom Neuen.
Nach einer Stunde ist der Rundgang schon wieder beendet. Die Krypta wird nur einmal im Jahr geöffnet, aber auch wenn ich sie leider nicht anschauen kann, bin ich begeistert. Besonders der Hof, der Pati d’Armes, hat es mir angetan. Eine wirklich tolle, alte neue Burg.
Casa Museu Domènech
Zu Fuß mache ich mich nun auf den Weg ins Stadtzentrum von Canet. Immer geradeaus, einfach nur bergab Richtung Meer, dann stehe ich nach rund 15 Minuten vor der Casa Museu Domènech i Montaner. In dem Gebäude mit dem markanten Giebel sind die Touristeninformation und ein kleines Museum untergebracht. Auf zwei Etagen führt die Ausstellung durch das Leben und Werk Domènechs i Montaners. Von den vielen Skulpturen, die die besten Bildhauer ihrer Zeit für den modernistischen Architekten entwarfen, sammelte Domènech die zur Probe angefertigten Gipsfiguren. Im Museum ist unter anderem der Schwimmer von Eusebi Arnau, aber auch zwei Frauenfiguren mit den neusten technischen Errungenschaften, nämlich elektrischer Strom und Telefon, ausgestellt.
Eine 100 Jahre alte Palme, die der Architekt einst selbst gepflanzt haben soll, überragt bis heute den modernen Anbau, in dem eine Ausstellung untergebracht ist. Über einen Hof gelangt man zum Nachbarhaus Can Rocosa, das Domènech i Montaner erwarb, um darin sein Atelier einzurichten. Beide Häuser waren ursprünglich einfache, einstöckige Fischerhäuser, wie sie in den Dörfern an der Küste typisch waren. Da sowohl seine Frau als auch er viel Zeit in Canet verbrachten, baute der Modernist die Gebäude für die Bedürfnisse seiner kinderreichen Familie um.
Amme mit Kind (o.) neuste Technik (u.)
(Probearbeiten aus Gips von Eusebi Arnau für die Casa Lleo Morera, die derzeit leider nicht zu besichtigen ist)
Ruta Modernista
Nachdem ich jeden Winkel durchstöbert habe, verlasse ich das Museum und stehe im Sonnenschein. Endlich zeigt sich ein wenig Blau am Himmel. Genau rechtzeitig, um einen Bummel durch Canet zu machen. Auf der Website gibt es mehrere selbst geführte Audio-Routen. Ich entscheide mich für die Modernistische. Gleich vor mir erhebt sich das Anteneu, ein 1887 im protomodernistischen Stil mit Sgraffiti (Sgraffitos) verschönertes Gebäude, das dazu dienen sollte, mögliche Besucher zu empfangen, die man seit der Einrichtung der Eisenbahnlinie erwartete. Da es in dem kleinen Fischerdorf keinerlei Cafés oder Unterhaltung gab, sollten die Menschen dort einkehren können. Der runde Turm an der linken Ecke lässt mich gleich wieder an mittelalterliche Burgen denken.
Direkt daneben befindet sich die Casa Roura. Komplett aus Backstein gebaut, mit schmiedeeisernen Verzierungen, einem runden Turm und den bunten, in der Sonne leuchteten Kacheln auf dem Dach, wirkt das Haus zwar elegant, aber sehr viel rustikaler, als das nur zwei Jahre zuvor umgebaute Ateneu.
Um die letzte Jahrhundertwende war nicht nur die Glanzzeit des Modernisme, sondern auch die Zeit der Americanos (oder Indianos) genannten Rückkehrer aus der Karibik. Die Wenigen, denen es gelang, in Übersee zu Wohlstand und Reichtum zu kommen, errichteten in ihren Heimatdörfern großzügige Prachtbauten. Auch in Canet gibt es einige dieser Häuser zu sehen. Doch mich zieht es zu einem anderen Plätzchen.
Vitralls de Canet
Gegenüber eines alten “Ultramarino”, wie die Kolonialwarenläden auch genannt wurden, liegt eine kleine Bäckerei. Im Schaufenster kann ich schon die Spezialität des Hauses entdecken, die Vitralls de Canet: Eine Hommage der Konditoren an den großen Sohn der Stadt, den Architekten Domènech i Montaner. Die bunten Farbkleckse lassen die Kekse wie kleine farbige Glasfenster aussehen, wobei die Form auch an die zur gesunden Durchlüftung eingebauten Rosetten in seinen Gebäuden erinnert. Ich kaufe zwar keine ganze Rosette, aber eine Tüte mit den kleinen Vitralls, die ich später zu Hause vernaschen werde. Denn vorher will ich noch einen kurzen Blick auf den Friedhof werfen.
Cementiri Canet de Mar
Friedhöfe sind für mich stille Orte der Ruhe und Einkehr. Meist sind es hübsche Grünanlagen mit wundervollen Kunstwerken und Pantheons, wie kleine Outdoor-Museen. Hier in meiner Nähe habe ich schon viele Cementiris besucht (Arenys, Lloret, Barcelona, Cardedeu), denn oft findet man dort großartige Werke bekannter Bildhauer und Künstler. Leider liegt der Cementiri in Canet, wie so oft, auf einem Hügel, aber es ist zum Glück nicht weit.
Als Erstes fällt mir das von Domènech i Montaner entworfene Pantheon Font Montaner mit seiner modernistischen Kuppel aus bunter Keramik ins Auge. Die Figuren an den Ecken stellen die vier Evangelisten dar und stammen von Pablo Gargallo, einem Künstler, den ich seit meinem letzten Besuch in Zaragoza total bewundere. Neben Eusebi Arnau und Masana ist Gargallo einer der Bildhauer, die regelmäßig mit Domènech i Montaner zusammenarbeiteten.
Das von Domènechs i Montaner (im Auftrag Ricard de Campanys) gestaltete Familiengrab, auf dem seine Frau Maria Roura und einer seiner Söhne ruhen, habe ich merkwürdigerweise übersehen. Die Skulptur aus weißem Marmor soll von Josep Llimona stammen, wurde aber leider während des Spanischen Bürgerkriegs beschädigt.
Bummel durch Canet
Ein Wandbild erinnert an Francesca Bonnemaison
Fabrikgebäude Jover
Santuari de la Misercordia
Ausflug nach Canet de Mar – zum Nachreisen:
Hinkommen:
Mit den Zügen der Rodalies, Linie R1 von Barcelona Sants oder Plaça Catalunya, fährt man direkt bis Canet de Mar.
Ofina de Turisme – in der Casa Museu Domènech i Montaner
Riera Gavarra, 2
08360 Canet de Mar (Barcelona)
T. 937 940 898
Website Tourist Office
Castell Santa Florentina
Av. Dr. Marià Serra,
08360 Canet de Mar (Barcelona)
Besuch nur im Rahmen einer Führung, vorab buchen
Informationen auf der Website
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