Als ich in dem winzigen Örtchen Seurí ankomme, sitzt rund ein Drittel der rund 20 Einwohner umfassenden Bevölkerung auf dem zentralen Dorfplatz. Dort gibt es eine Bank, einen Trinkbrunnen und eine schöne Aussicht auf die umliegenden Felder. Auch Blai, mein Guide, wartet hier auf mich. Wir füllen unsere Trinkflaschen mit frischem Wasser auf, dann machen wir uns auf eine kleine Wanderung. Seurí ist ein stiller kleiner Ort. Nur wenige, meist ältere Menschen leben noch das ganze Jahr über in dieser Abgeschiedenheit. Die meisten Einwohner sind nur an den Wochenenden oder in den Ferien hier, um die beschauliche Ruhe in ihren hübsch restaurierten Häuser zu genießen. Nach wenigen Minuten haben wir das Dorf durchschritten und folgen einem Pfad in Richtung Meneurí. Ungefähr 400 Meter hinter dem Dorf kreuzen wir zum ersten Mal den Rio de Pamano, den Fluss, der Jaume Cabré zum Titel seines Buches inspiriert hat.
Der Roman “Die Stimmen des Flusses” (Les Veus del Pamano) von Jaume Cabré erzählt eine Liebesgeschichte in Zeiten des Spanischen Bürgerkriegs und handelt von den zwischenmenschlichen Dramen, die sich damals im Vall d’Àssua abspielten. Ich kenne das Pyrenäental von einem Besuch, bei dem Michi und ich den Pferden, Kühen und Schafen beim Grasen auf den Sommerweiden zugesehen haben. Heute soll es auf einem Rundweg von Seurí nach Lessui und wieder zurück gehen.
Der erste Teil der Strecke ist angenehm schattig. Blai sagt, bevor die modernen Straßen in den Pyrenäen gebaut wurden, verbanden Wege wie dieser hier die kleine Dörfer. Menschen und Tiere verkehrten so viele Jahrhunderte lang zwischen Llessui und Seurí. Durch die Nähe zum Rio Pamano wächst der wilde Oregano am Wegesrand höher als anderswo. Im Zickzack geht es beständig weiter bergauf. Wo wir heute an längst zerfallenen Trockenmauern, zwischen grünen Bäumen und üppig wuchernden Sträuchern entlang laufen, trieben früher die Schäfer ihre Herden auf die Weiden. Pflanzenfreunde finden hier jede Menge spannende Kräuter. Denn neben Haselnussträuchern, Himbeeren und Brombeeren, zieren die weißen Blüten des Taubenkropf Leimkrauts, die man wie Knallerbsen platzen lassen kann, den Wegesrand. Eine extrem großblättrige Pflanze, verrät Blai, kam in in frühen Jahrhunderten anstelle des noch nicht erfundenden Toilettenpapiers zum Einsatz.
Schließlich erreichen wir eine der alten Masias, La Borda de Joanet. Im Frühjahr zogen die Familien aus den Dörfern im Tal hier hinauf, um bei ihren Herden zu sein. Sie legten kleine Gemüsegärten an, in denen sie anbauten, was sie zum Leben brauchten. Denn Läden oder Supermärkte gab es keine. Sie verbrachten den gesamten Sommer dort, bis es an der Zeit war, die Tiere im Oktober wieder ins Tal zu treiben. Heutzutage sind viele dieser alten Höfe aufwendig restauriert und mithilfe von Strom liefernden Photovoltaikanlagen an das moderne Leben angeschlossen.
Bald schon bietet sich uns ein unglaubliches Panorama. Wir sind mittlerweile auf einer Höhe von 1400 Metern angelangt und können Llessui in der Ferne erblicken. Nachdem wir ein weiteres Gehöft passiert haben erreichen wir eine kleine Landstraße. Doch ein gelbes Kreuz verrät, dass unser Weg nicht auf dieser Straße weitergeht. Wir müssen noch ein Stück weiter den Berg hinauf wandern. Der Anstieg ist steil, aber nicht schwierig. Die Aussicht ist fantastisch. Unter uns erstreckt sich nun der Barranc de les Boïgues. Es lohnt sich, immer wieder stehenzubleiben und den Blick in alle Richtungen schweifen zu lassen und sich Zeit zu nehmen, um den Singvögeln, der Samtkopf-Grasmücke, der Kohlmeise, den Wasseramseln, dem Kleiber oder den Grünspechten zu lauschen. Auf 1500 Höhe erreichen wir schließlich eine weitere Masia, La Borda de Bolunya. Wir wenden uns rechts und gelangen wieder auf einen gepflasterten Weg.
Bergauf führt diese Schotterpiste zu den Sommerweiden des Vall d’Àssua, wo neben Schafen und verschiedene Rindersorten auch muskulöse Pferde, deren Fleisch zum Verzehr bestimmt ist, grasen. Am häufigsten sieht man die hellbraune Vaca Bruna, eine einheimische Kuh, die besonders gut für das Leben im Hochgebirge geeignet ist. Bei den steil abfallenden Wiesen und an den Hängen ist es für die Viehzüchter wichtig, dass die Kühe robust sind, denn wer in dem unwegsamen Gelände nicht gut kraxeln kann, bricht sich schnell einen Knöchel und wird zum Futter für die Geier.
Doch wir wandern nicht bergauf, sondern halten uns Richtung Osten, wo die Häuser von Llessui bereits in der Ferne zu sehen sind. Um dorthin zu gelangen, müssen wir einen Bogen laufen und folgen dem Schotterweg hinab bis wir wieder den Pamano, den Fluss, der das ganze Tal durchquert, überqueren. Am Rande eines großen Platzes hat man eine Art Holzzaun errichtet. Diese Freifläche dient nicht nur als Parkplatz für Autofahrer, sondern ist quasi die letzte Möglichkeit für die Viehzüchter, ihre Tiere vor der Transhumancia, dem Almauftrieb, zu zählen oder zu markieren, ehe sie ganz ohne Zäune allein auf den Sommerweiden grasen.
In Llessui gehen wir an den Überresten der alten Dorfkirche Sant Pere vorbei. Kurz dahinter liegt das Museu del Pastor, ein von den Schäfern und Schäferinnen liebevoll eingerichtetes Museum, das nicht nur von den Aufgaben und dem Leben des vom Aussterben bedrohten Berufs der Hirten erzählt, sondern auch Pflanzen und Tiere der Bergwelt erklärt. Vom zentralen Dorfplatz aus geht es ein Stückchen an der Landstraße bis zu einer Bank, die links am Straßenrand steht. Dort führen ein paar Stufen uns auf den schmalen Pfad nach Llessui. Zweimal kreuzt unser Weg die asphaltierte Landstraße, die sich in geschwungenen Kurven ins Tal schlängelt, dann kommt auch schon Seurí in Sicht.
Die Kirche San Victor de Seurí liegt am höchsten Punkt der kleinen Siedlung. Bis vor wenigen Jahren wurde die alte romanische Kirche nur noch selten genutzt. Doch die Dorfbewohner wollten ihre Kirche mit neuem Leben füllen und hatten eine wunderbare Idee, über die ich vor einigen Jahren bereits geschrieben habe. Es lohnt sich wirklich, sich vorab nach den Öfffnungszeiten der Kirche zu erkundigen, um dieses einzigartige Projekt mit eigenen Augen zu sehen. Bunte Blumen und farbenfrohe Muster strahlen an den Wänden und von der Decke. Man spürt eine unbändige Kraft der Farben, so als stünde man mitten in einem überdimensionalen Bilderbuch.
Kleiner Tipp zur Einkehr:
In der rustikalen Casa Kiko in Llesui gibt es traditionelle Gerichte mit Zutaten aus der Region. Auf der Speisekarte steht viel Fleisch, denn das gibt es hier natürlich frisch von den eigenen Weiden. Aber es finden sich auch fleischfreie Speisen. Auf der üppigen Wurst- und Käseplatte finden sich die Spezialitäten der Gegend: Secallonga, Xolís, Bull de Lengua. Der Käse ist natürlich vom Schaf. Spezialität des Hauses ist “Palpis”.
(gewandert im Juli 2024)
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