Kurvige, enge Straßen führen mich immer weiter in die Berge der Pyrenäen. Ich bin auf dem Weg nach Dòrria, einem ganz kleinen aber dafür dem höchstgelegenen Dorf ganz Kataloniens. Die Berggipfel ragen immer höher in den Himmel. Die Orte, durch die ich fahre, werden immer kleiner. Irgendwann gibt es nur noch vereinzelte Häuser am Straßenrand. Es geht nur langsam voran in den vielen Kurven.
Aber irgendwann komme ich an. Ich lande in einem ziemlich verlassen wirkenden Dorf mit fünf oder sechs schönen, alten Steinhäusern. Das ist Dòrria. Miquel erwartet mich schon. Außer ihm und mir ist nur ein etwas zerzaust aussehender Hund unterwegs. Sonst ist weit und breit niemand zu sehen. Es ist einfach nur still hier oben.
Miquel ist fast jeden Samstag hier, um Besuchern wie mir, die Geschichte des Dorfes zu erzählen. Wir gehen zu einem kleinen Turm. Dort ist es schön schattig und die Aussicht ist fantastisch. Miquel zeigt auf ein paar Häuser, weiter unten im Tal, zwischen denen sich ein ganz ähnlicher Turm erhebt, wie der, in dem wir gerade stehen. „Wenn Besucher aus dem Baskenland kommen, wissen sie sofort, was Dòrria früher einmal war, nämlich eine Art Wachposten hoch oben in den Bergen, nahe an der Grenze zu Frankreich.“ Natürlich muss ich nachfragen, warum die Basken das denn sofort wissen. „Dòrria ist ein baskisches Wort und heißt übersetzt Wachturm!“ „Dann ist der Name des Orts also baskischen Ursprungs?“, frage ich erstaunt und erfahre, dass man früher im gesamten Gebiet der Pyrenäen Baskisch gesprochen hat. Bis heute weiß zwar niemand zweifelsfrei, woher diese Sprache kommt, aber bis vor ein paar Jahrhunderten, war Baskisch die Sprache der Menschen hier in den Bergen.
Mitten durch Dòrria führte einer der wichtigsten Wege nach Frankreich. Bereits seit dem neunten Jahrhundert lebten die Menschen in dem kleinen Bergdorf von den Reisenden, von durchziehenden Heeren, Händlern und allen, die die Pyrenäen überquerten. Sie kümmerten sich jedoch nicht nur um die Versorgung der Reisenden, sondern trieben selbst Handel. Auch Schmuggler gab es sicherlich, obwohl das wohl keiner so offiziell zugeben würde.
Dann wurde im achtzehnten Jahrhundert eine neue Straße gebaut. Und die führte nicht mehr durch Dòrria. Das Dorf auf ca. 1.500 Meter Höhe war plötzlich abgeschnitten vom Rest der Welt. Fast geriet der kleine Ort in Vergessenheit, aber nur fast.
Ende des neunzehnten Jahrhunderts boomte in Barcelona die Renaixença: Man erinnerte sich der katalanischen Wurzeln, die Architekten des Modernismus waren angesagte Superstars und die Reichen und Schönen suchten sich Sommerresidenzen, weit weg von Barcelona, in den Bergen.
So kam es, dass die High Society die fast schon verlassenen Häuser kaufte, um sich hier in der Sommerfrische zu erholen. Die alten Gebäude wurden restauriert und das gesamte Dorf unter Denkmalschutz gestellt. Das hatte allerdings auch den Nachteil, dass sich keine „normalen“ Bewohner mehr in Dòrria niederließen, da ja keine baulichen Veränderungen mehr erlaubt waren. Wenn man Umbauarbeiten durchführen wollte, brauchte man schon sehr viel Geld, um das denkmalschutzgerecht umsetzen zu können.
Die Reichen und Schönen sind längst weitergezogen und verbringen ihre Ferien heute lieber am Strand oder im Beachclub. In Dòrria lebt niemand mehr von den Reisenden, obwohl das ganze Gebiet vor Naturfreaks, Wanderern und Radfahrern nur so strotzt. Aber hier gibt es kein Hostel, keine Bar, ja nicht einmal ein Klo!
Miquel meint, eine Familie lebe noch hier. Seit Generationen betreiben sie Viehzucht und sie denken gar nicht daran wegzuziehen. Auch in der jüngsten Generation hat sich die Tochter dafür entschieden, hier oben zu bleiben. Aha, denke ich. Denen gehört dann wohl der Hund.
Dann betreten wir die kleine Kirche, Sant Victor de Dòrria. Sie ist wirklich winzig und blickt, wie das Dorf, auf eine Geschichte, die bis ins neunte und zehnte Jahrhundert reicht, zurück. Durch einen Zufall entdeckte man 1997 unter mehreren Gips-, Kalk- und Farbschichten romanische Malereien! In einem aufwendigen Projekt wurden diese Schätze ganz behutsam freigelegt. Und ich kann sie nun exklusiv und in aller Ruhe betrachten.
Ich setze mich in eine Kirchenbank. Wenn das Portal des Klosters in Ripoll eine „steinerne Bibel“ ist, dann ist das hier eine Bibel aus bunten Bildern! Miquel versucht mir klar zu machen, was ein Gläubiger, der im zehnten Jahrhundert das Gotteshaus betreten hat, hier gesehen hat. Die Farben, Handhaltungen, Gesten auf den Darstellungen waren leicht interpretierbar und sehr sehr beeindruckend, für Kirchenbesucher, die meistens ja nicht lesen und schreiben konnten. Viele dieser Schlüssel zum Lesen der Bilder sind jedoch im Laufe der Jahrhunderte verloren gegangen. Miquel macht also für mich den Übersetzer und hilft mir, die Bilder zu verstehen.
Wie schon in Ripoll geht es auch hier wieder um den Christus Pantokrator, der unter der Decke über dem Altar thront. Rechts und links an den Seiten sind jede Menge Figuren dargestellt, das müssen die Apostel sein. Ich zähle vorsichtshalber. Es sind dreizehn! Miquel lässt mich genauer hinsehen. Neben einigen der Figuren sind Namen lesbar. Der Vorletzte von rechts ist demnach Petrus. Allerdings steht direkt daneben noch eine Figur, die einen Schlüssel, der ja normalerweise Petrus kennzeichnet, in der Hand hält – wobei der Schlüssel eher aussieht wie ein Brenneisen zum Markieren der Schafe. Ich bin verwirrt.
„Der doppelte Petrus war eigentlich nie als doppelter Petrus zu sehen.“ Der ursprüngliche, erste Petrus, war den Kirchenoberen einfach zu schlicht, und zu sehr mit den anderen Aposteln auf einer Ebene. Da der Papst ja der Vertreter Petrus‘ auf Erden ist, musste natürlich auch der Apostel Petrus hier an der Kirchenwand hervorgehoben werden. Also überpinselte man den ersten, „einfachen“ Petrus und malte stattdessen einen neuen, der sich besser von den anderen Aposteln abhob. Seine Augen sind größer, seine Ohren und Barthaare viel feiner dargestellt. Bis 1997 hat niemand den doppelten Petrus so an der Wand sehen können, wie ich jetzt. Erst bei den Restaurierungsarbeiten kamen sie gleichzeitig zum Vorschein und stehen nun Hand in Hand hier.
Jede Geste, jede Farbe hat etwas zu bedeuten. Da meine Bibelkenntnisse nicht so frisch sind, wie die der Gläubigen im zehnten Jahrhundert, stellen die Malereien für mich ein echtes Puzzle dar. Aber Miquel führt meine Überlegungen ganz geschickt mit seinen Fragen und Erklärungen auf den Weg der Erkenntnis. Mit seiner Hilfe entdecke ich nach und nach den Psalmen lesenden König David vor dem Bogen der Apsis, eine weitere Psalmen lesende Figur auf der gegenüberliegenden Seite und sogar tanzende Menschen! In der Mitte thront Maria, die Muttergottes. Sie ist ganz ähnlich dargestellt, wie der Christus Pantokrator, der nur wenige Schritte weiter über dem Altar thront.
Stück für Stück erläutert Miquel mir die einzelnen Bilder. Es ist ein richtig großes, wenn nicht vielleicht sogar das größte, zusammenhängende Stück romanischer Malerei, das bis heute erhalten ist. Meistens sind nur einzelne Fragmente erhalten geblieben, aber hier sind große Teile der Wandbemalung zu erkennen.
Über dem Bogen, der den Kirchenraum von der Apsis trennt, sind Sternzeichen zu erkennen. Aber natürlich wollte man hier kein Horoskop darstellen. Die Menschen orientierten sich früher an den Sternen und kannten selbstverständlich alle Sternbilder am Himmel. Hier auf dem Bogen sind die Sterne bzw. Sternbilder, also die Wegweiser in den Himmel. Im übertragenen Sinne befindet der sich direkt dahinter, nämlich in der Apsis, mit den Darstellungen des Christus und der Apostel: „Bilder und Architektur gehören zusammen und übermitteln so eine Art Gesamtbild an die Gläubigen.“ erklärt Miquel. Es ist wirklich faszinierend. Aber irgendwann sind alle Darstellungen enträtselt und meine kleine Reise in die Köpfe der Menschen des zehnten Jahrhunderts ist zu Ende.
Als ich wieder im Auto sitze, muss ein einsames Huhn unbedingt direkt vor mir nach unsichtbaren Körnern picken. Es ist nicht im geringsten von meinem dicken Metallgefährt beeindruckt. Na gut. Dann warte ich eben. Irgendwann hat das Huhn endlich genug und trippelt gemächlichen Schrittes zur Seite. Ich trete den Rückweg an und fahre durch die kurvigen Straßen wieder hinab ins Tal.
Meine Recherche wurde unterstützt von Turisme Ripoll und Turisme Girona, die mir eine Übernachtung in Ripoll ermöglicht haben. Vielen Dank an Miquel für diese Tour in die romanische Kunst des zehnten Jahrhunderts!
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