Nicht jeder konnte sich ein Ticket leisten. Der Preis den Viele zahlten, nur um auf eines der schlecht ausgerüsteten Schiffe zu gelangen, entsprach mehreren Monatslöhnen harter Arbeit. Oft legten die Familien ihr Erspartes zusammen, damit wenigstens einer gerettet werden konnte. Und dennoch. Viele Tausende Menschen starben auf der Flucht in ein neues Leben, schon während der Überfahrt.
Die Sonne scheint, als wir am Ufer der Liffey entlang Richtung Hafen spazieren. Es ist nicht wirklich heiß. Das wird es in Dublin wohl nie, aber es ist angenehm warm und trocken. Hinter dem Memorial der Großen Hungersnot liegt ein Schiff vor Anker. Es ist die Jeanie Johnston, der Nachbau eines Schiffes, das viele Iren im neunzehnten Jahrhundert in ein neues Leben jenseits des Atlantik brachte.
Ray ist Ire und sehr stolz darauf einer zu sein. Er ist unser Guide bei der kleinen Tour durch ein Boot, das die Geschichte der großen Hungersnot auf seine ganz eigene Art erzählt.
Damals, vor über hundertfünfzig Jahren, fuhren zahlreiche Schiffe über den Atlantik, um halb verhungerte Iren in der Hoffnung auf ein neues, besseres Leben nach Amerika zu bringen. Viele dieser Schiffe waren jedoch überhaupt nicht für den Transport von Passagieren gedacht. So kam es, wie es kommen musste, und viele Auswanderer erreichten ihr Ziel nicht lebend.
Die Jeanie Johnston war das einzige Schiff, das nie auch nur einen Passagier verloren hat. Und darauf ist Ray richtig stolz. Es ist fast so, als wäre er selbst der Kapitän. Ich kann ihn mir jedenfalls gut als Kapitän vorstellen. Noch an Deck stehend beginnt er uns zu erklären, was es mit der Kartoffelkrise eigentlich auf sich hatte.
The Great Famine – die Kartoffelkrise
The Great Famine hat Irland mehr als jede andere Krise vorher oder nachher beeinflusst. Die Kartoffel schrieb in Irland Geschichte. Denn Irland war und ist von der Landwirtschaft geprägt. Damals, vor der großen Hungersnot, ließen die reichen Landlords Kartoffeln anbauen und das Geschäft lief gut. Anglo-irische Familien bildeten die Oberschicht in Irland. Ihnen gehörte fast das ganze Land.
Die Menschen in Irland ernährten sich nach wie vor von traditionellen Milch- und Getreideprodukten, aber sie aßen auch immer mehr Kartoffeln. Kartoffeln waren billig und machten satt. Vor allem die beliebte Lumper war eine sehr robuste Sorte, die fast überall wuchs. Praktisch jeder konnte sie auf einem Stückchen Erde anbauen. Und genau das taten die Iren auch. Wer mehr Kartoffeln hatte, als er selbst essen konnte, verkaufte den Rest auf dem Markt oder tauschte sie gegen anderes Gemüse.
Doch dann kam es zur Katastrophe. Ein kleiner böser Pilz, der Kartoffelmehltau, machte zwischen 1845 und 1852 gleich mehrere Ernten zunichte. Infolge der durch die Kartoffelfäule ausgelösten Missernten starb fast eine Million Iren an Hunger. Das waren fast 12% der damaligen Bevölkerung. Zwei weitere Millionen flüchteten auf die Boote und hofften, irgendwie in Amerika anzukommen.
Das Schlimme an dieser Krise war jedoch nicht nur die Kartoffelfäule selbst, sondern das totale Missmanagement seitens der Landbesitzer und der Regierung. Es war ein politisches Desaster. Damals gehörte Irland noch zum United Kingdom und es war die britische Regierung, die total versagt hatte.
Nach der Krise war Irland nie mehr wie vorher. Weder demografisch, noch politisch, noch kulturell. Von der demografischen Schrumpfung durch die Great Famine erholte sich das Land nie wieder.
Dann steigen wir hinab in den Bauch der Jeanie Johnsten. Die Kabinen sind so nachgebaut, wie die Leute damals die Überfahrt erlebten. Es ist dunkel und eng. Schmale, harte Holzkojen dienten als Schlafplätze, ein langer Tisch mit Bänken in der Mitte nimmt fast den ganzen Raum ein. Links und rechts stehen, liegen oder sitzen Figuren. Wir nehmen zwischen den stillen „Passagieren“ Platz und lauschen Rays Erklärungen.
Auswandern auf der Jeanie Johnston
Fünf Dollar kostete die einfache Fahrt in die Neue Welt auf der Jeanie Johnston. Das entsprach in etwa dem Verdienst von sechs Monaten Arbeit. Nur Wenige konnten sich ein Ticket nach Amerika leisten. Oft legte die ganze Familie zusammen, um wenigstens einem Familienmitglied die Überfahrt zu ermöglichen. Egal ob Männer, Frauen oder Kinder, die Passagiere schliefen mehr oder weniger alle zusammen, wo Platz war. Auch wenn es unglaublich klingt, aber bis zu 200 Menschen sollen auf so einer Überfahrt, die immerhin achtundzwanzig Tage dauerte, nach Nordamerika gebracht worden sein.
Nicholas Donavan war der Name des Kapitäns. Und er war ein ganz besonderer Kapitän. Ihm ist es zu verdanken, dass alle Passagiere der Jeanie Johnston lebendig das andere Ufer des Atlantiks erreichten. Er sorgte für ausreichend Essen und Trinken und organisierte eine einfache, aber effektive medizinische Versorgung an Bord. Der Schiffsarzt hielt das Schiff krankheitsfrei. Und es gab strenge Regeln: kein Rauch, keine Flammen, kein Spucken, keine Kämpfe, keine Glücksspiele, kein Alkohol und keine Flüche! Nur durch strikte Einhaltung dieser Regeln und simple hygienische Maßnahmen, wie die tägliche Reinigung des kompletten Schiffes durch die Passagiere, konnte die Überfahrt gelingen.
Dass bei den insgesamt sechzehn Fahrten der Jeanie Johnsten an die Küsten der USA und Kanadas alle Passagiere überlebten, kam damals einem Wunder gleich. Auf anderen Schiffen starb normalerweise rund die Hälfte der Reisenden (oder sogar noch mehr) schon während der Fahrt. Für eine Überfahrt auf einem dieser billigeren Schiffe zahlte man zwar nur zwei Dollar, aber landete dafür dann auch auf einem total überfüllten Kahn mit katastrophalen Wasser- und Ernährungsbedingungen. Oft mussten die Auswanderer sogar ganz ohne jegliche Versorgung auskommen. Coffin ships „cónra-long” nannte man diese schwimmenden Särge daher auch, weiß Ray zu berichten.
Das Essen auf der Jeanie Johnsten war einfach. Es gab Wasser, Mehl, Melasse und Tee, und doch war es das Beste, was viele Iren seit Jahren hatten. An Deck konnten sie sich aus dem Mehl sogar ihr eigenes Brot backen.
Ankunft in der Neuen Welt
Wer irgendwie schreiben und lesen konnte, bedankte sich nach der glücklichen Überfahrt beim Kapitän und beim Doktor. In allen Briefen loben die ehemaligen Passagiere die Jeanie Johnston in höchsten Tönen und voller Begeisterung. Für die total verzweifelten Iren war ein Ticket auf diesem Schiff wie ein Sechser im Lotto, sagt Ray.
In den Häfen an der irischen Küste sah man damals oft schreckliche Bilder. Mütter streckten den Leuten auf den Auswandererschiffen ihre Babys entgegen, in der Hoffnung, dass die Kleinen ein besseres Leben haben würden. Meist überlebten diese Säuglinge auf den Schiffen nicht lange. Trotzdem sahen die verzweifelten Mütter offenbar mehr Chancen für ihre Kinder auf einem solchen Coffin Ship zu überleben, als in Irland. Die Babys, die die Überfahrt tatsächlich überlebten, wurden in Kanada adoptiert und dort von Kanadiern großgezogen.
In den Häfen auf der anderen Seite des Atlantiks erwarteten ebenfalls wahre Menschenmassen die einlaufenden Schiffe. Bereits ausgewanderte Iren bevölkerten die Quays und hofften, vielleicht ein Familienmitglied zu finden. Ohne Telefon und die heutigen Möglichkeiten der Kommunikation war es damals nicht sicher, dass man sich in der Neuen Welt auch wiederfand, selbst wenn man die Fahrt überlebt hatte. Geschwister, Ehepaare, Familien mussten oft lange sparen und einzeln reisen. So kam es, dass sich Viele aus den Augen verloren und manchmal Jahre brauchten, um Familienangehörige wiederzufinden. Manche fanden sich auch gar nicht.
Irische Schicksale auf dem Weg nach Amerika
Jede der vielen Figuren, die um uns herum zusammengekauert oder allein in einer Ecke sitzen, hat einen Namen. Ray stellt sie die Passagiere einzeln vor und erzählt ihre Geschichten. „Die meisten Leute auf dem Schiff kamen aus dem County Kerry. Viele Menschen damals konnten nicht einmal ihren eigenen Namen schreiben. Es waren arme, ungebildete, einfache Leute“, beginnt Ray.
Weil der Captain ein guter Mensch war, nahm er Kinder unentgeltlich mit an Bord, wie zum Beispiel Margret und John, Waisenkinder. Ihre Eltern waren irgendwann während der Hungersnot gestorben, sodass die Geschwister, 15 und 12 Jahre alt, völlig auf sich allein gestellt waren. Heil und gesund in den USA angekommen, weiß man, dass John in einem Waisenheim untergebracht wurde. Seine ältere Schwester ging wahrscheinlich in einer Fabrik oder einen Haushalt arbeiten.
Mit Margret Reill und ihrem Mann Daniel geht die Vorstellungsrunde weiter. Die junge Frau kam schwanger an Bord und gebar ihr Baby auf dem Schiff. Aus Dankbarkeit benannte sie ihren Sohn nicht nur nach dem Kapitän Nicholas, sondern nach der kompletten Mannschaft der Jeanie Johnston. Ray zeigt uns sogar eine Kopie der Taufurkunde. Von dem Baby mit dem langen Namen weiß man, dass es glücklich in den Staaten aufwuchs, und dort heiratete. „Der Enkel dieses Babys war sogar schon hier zu Besuch!“, ergänzt Ray ganz stolz diese Geschichte.
Mit jeder einzelnen Figur wandte sich eine hoffnungslose Situation doch noch zu einem guten Schicksal. Und so verteilten sich viele Millionen Iren über Amerika. Der durchschnittliche Ire war kräftig und gut gebaut. Viele der Einwanderer waren einfache Leute und geschickte Handwerker, die ihre Fertigkeiten und ihre Traditionen, ihre Musik, ihre Gedichte in die neue Heimat mitbrachten. Die Generation der Großen Hungersnot packte an und baute Amerika mit auf. Einige von ihnen waren die Vorfahren bedeutender, amerikanischer Staatsbürger.
Das Ende der Jeanie Johnston
Nach sechzehn Überfahrten wurde das Schiff verkauft und für den Holztransport eingesetzt. Bei einer solchen Fahrt sank die Jeanie Johnston. Allerdings sank sie erst kurz vor der Einfahrt in den Hafen, sodass alle Besatzungsmitglieder gerettet werden konnten. Die Jeanie Johnston hat also wirklich niemals einen Passagier verloren.
Infos Jeanie Johnston und Great Famine:
Eintritt für die Tour: 9,50 Euro
Website: http://jeaniejohnston.ie/
The Great Famine Memorial
Das Great Famine Memorial steht nur wenige Meter vom Schiff entfernt am Ufer des Liffey. Die Bronzeskulptur von Norma Smurfit stellt eine Menschengruppe dar, stellvertretend für all die Tausende von Iren, die ihre Heimat verlassen und unter teilweise katastrophalen Bedingungen auswandern mussten.
An der Stelle, an der das Memorial errichtet wurde, stach eines der ersten Schiffe in See, das die Auswanderer nach Übersee brachte, die Perseverance. Auch auf dieser Reise, die 1846 in New York endete, überlebten damals alle Passagiere.
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