Genau siebenundzwanzig Jahre ist es her, dass ich mich auf meine erste große Reise begeben habe. Drei Monate lang bin ich allein durch Mexiko gereist. Ich habe ein Land entdeckt, das mich begeistert hat. Die ganze Reise hat mich verändert und geprägt. Für mich war es der Anfang eines neuen, erwachsenen Lebens. Denn als ich von diesem ersten Abenteuer zurückkam, war ich nicht mehr dasselbe, schüchterne Mädchen vom Dorf, das sich nur wenige Monate zuvor ins Flugzeug gesetzt hatte.

Aber ich will von Anfang an erzählen. Es war das Jahr 1989. Ich war Anfang zwanzig und gerade dabei, eine kaufmännische Ausbildung zu machen. Mit der war ich allerdings nicht so wirklich glücklich. Ich musste raus, wollte die Welt sehen. Es gab einige dramatische Diskussionen zu Hause, aber dann stand fest: Die angefangene Lehre mache ich zu Ende, dann kann ich losziehen. Vier Tage nachdem ich meine Prüfungen vor der Handelskammer abgeschlossen hatte, saß ich also im Flugzeug.

1989 gab es noch keine günstigen Angebote für Fernflüge wie heute. Aber zum Glück hatte ich einiges gespart. Ich war mir nicht sicher, ob ich wieder kommen würde. Mir war nur klar, ich musste weg. Je weiter weg, umso besser. Im Reisebüro kaufte ich mir also ein Ticket nach Mexiko. Das Internet gab es damals noch nicht. Hätte die Dame im Reisebüro Flüge zum Mond gehabt, wäre ich sicher dort hingeflogen. Für mich war Mexiko so ungefähr das Entfernteste, was ich mir überhaupt nur vorstellen konnte. Es klang exotisch, fremd, nach Abenteuern und nach weit, weit weg.

Als ich schließlich ins Flugzeug stieg, wurde mir dann doch etwas mulmig. Meine Eltern standen sicher irgendwo auf der Besucherterrasse des Frankfurter Flughafens, während ich noch aufgeregt meinen Sitzplatz suchte. Noch nie war ich so weit weg, so ohne ein genaues Ziel irgendwo hingefahren. Frankreich und Österreich kannte ich, da war ich im Urlaub mit meinen Eltern gewesen. Aber fliegen? Und dann gleich nach Mexiko?

Die meisten meiner damaligen Bekannten hielten mich für verrückt. Ich hatte doch so eine gute Stelle. Wieso wollte ich da weg? Meiner armen Mama war angst und bange. Ich war noch jung und ziemlich naiv. Ein Dorfblümchen. Es gab keine Handys und keine Möglichkeit eine Mail zu schicken. Nicht einmal eine feste Adresse hatte ich ihr geben können. Ich wusste ja selbst noch gar nicht, wo ich landen würde. Sie konnte also nur auf einen Brief oder eine Postkarte von mir warten. Und das konnte dauern. Aber sie hat mich ziehen lassen. Das rechne ich ihr bis heute hoch an.

Neben mir saßen zwei üppig gebaute Mexikanerinnen, die sich gleich mehrfach bekreuzigten, als die Maschine die Motoren anwarf. Das war mir schon etwas unheimlich. Ist es denn so gefährlich? Aber es gab kein Zurück mehr. Ich wollte, nein, ich musste raus. Mein bisheriges Leben umstülpen und noch einmal neu anfangen. Egal wie gefährlich es werden sollte, es würde meine Reise sein und ich würde an den Schwierigkeiten wachsen. Ich war zu allem bereit.

Ankunft in der „De-effe“:

Völlig übermüdet kam ich irgendwann am Nachmittag in Mexiko an, in der D. F. wie die Mexikaner ihre Hauptstadt nennen. Ein lieber Freund, den ich aus Deutschland kannte, und der trotz deutschem Pass mehr Mexikaner ist, als viele Mexikaner, holte mich ab. Andreas Eltern waren irgendwann in den siebziger Jahren nach Mexiko gekommen und er ist eben hier groß geworden.

Andreas begleitet mich zu meiner ersten Unterkunft in diesem neuen, unbekannten Land. Auch wenn Couchsurfing offiziell noch gar nicht erfunden war, habe ich genau das damals gemacht. Andreas hatte mir bei einer befreundeten Familie ein Zimmer besorgt, das ich für ein paar Wochen umsonst bewohnen durfte, weil die Tochter, ungefähr in meinem Alter, gerade in Europa war.

Das ältere Pärchen, bei dem ich nun wohnen durfte, war super nett. Trotzdem war es für mich dort sehr gewöhnungsbedürftig. Alle Fenster waren vergittert. Alleine nach draußen gehen sollte ich nicht. Wohin auch? Egal was, alles war eigentlich nur mit dem Auto zu erreichen. Oder mit einem der Minibusse, die ich dann später auch oft genommen habe. Besonders erstaunt hat mich, dass der Briefträger nur ein einziges Mal in der Woche kommt. Bei den vielen Straßen in Mexiko City mussten die Postboten sich ihre Wege wohl gut einteilen.

mexiko mexico-d-f Mexico city

mexiko mexico d f ciudad satelite

Dann ging die große Entdeckungsreise los. Jeden Tag zeigte mir Andreas irgendetwas aus seiner Stadt. In Teotihuacan mühte ich mich ab, die Namen der aztekischen Götter richtig auszusprechen. Das reinste Chaos, aber Andreas amüsierte sich köstlich. Wir wanderten durch den Chapultepec Park und das Schloss von Kaiser Maximilian. Hungrig stürzte ich mich auf diese Stadt, las abends Bücher und lauschte aufmerksam den Geschichten, die Andreas mir erzählte.

mexiko teotihuacan-sonnenpyramide
mexiko teotihuacan

mexiko Quezalcoatl tempel teotihuacan pyramiden

Das anthropologische Museum, eines der besten Museen, die ich bis dahin je gesehen hatte, der Templo Mayor, der riesige Zócalo – alles haute mich einfach schier um. Ich war endlos begeistert von dieser so ganz anderen Welt. Eine völlig andere Art zu Leben, als das, was ich aus Deutschland kannte. Denn noch beeindruckender als die Ruinen der Azteken, waren die Menschen selbst. Ich hatte neben den Reiseführern „Das Labyrinth der Einsamkeit“ von Octavio Paz gelesen. Eine unglaublich einfühlsame, sehr feine und sensible Beschreibung der mexikanischen Seele. Ein wunderbares Buch.

Mexiko anthropologisches Museum

mexiko anthropologisches museum

Mexiko la DF Chapultepec Schloss

mexiko Blick vom Chapultepec-schloss

Auch die Musik war anders. Außer Madonnas „Like a Prayer“ oder „Looking for Freedom“ erklang hier „La chica de humo“ und „Ojalá que llueva café“ in den Radios. Hier waren Emmanuel, Juan Luis Guerra und Luis Miguel die angesagten Helden. Aber eine deutsche Musikerin war sogar in Mexiko ein Begriff: Nena. Die Neunundneunzig Luftballons kannte man sogar auf der anderen Seite des Atlantiks.

Natürlich lernte ich auch ein paar von Andreas Freunden kennen. Auch in Mexiko feierte man schließlich die eine oder andere feuchtfröhliche Party. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir die erste. Gleich nach meinem Eintreffen haben mich die Mädels beiseite genommen. Ich, frisch vom Land und eher aus der Tee trinkenden, lange-Indienkleider-Fraktion, hatte mich natürlich nicht geschminkt. Ich hasste Schminke und war gegen eine solche Art von Verkleidung der Frauen.

mexiko Mexico city zocalo

Mehr oder weniger konnte ich auf Spanisch meinen Namen sagen, aber auch wirklich nicht viel mehr als das. Als mich die gesamte fröhliche Gruppe der Mexikanerinnen dann mit ins Bad zog, schwante mir schon, was mir bevorstand: eine Lektion im Schminken. Make-up Unterricht. Aber was sollte ich machen? Protestieren? Mich weigern? Alle waren wirklich nett und so bemüht. Also ließ ich sie einfach machen. Fröhlich gackernd wurde an mir gezupft und gepinselt, in blau und grün und hier noch auf die Augen und da noch an die Backen. Als sie fertig waren, waren die Mädchen richtig stolz auf ihr Werk und präsentierten mich dem Rest der feiernden Truppe. Ich kam mir zwar vor wie ein Clown, aber nun waren alle happy und ich war in die Gruppe aufgenommen.

An diesem Tag habe ich eine wichtige Lektion gelernt: Man kann sich anpassen, ohne sich dabei verbiegen zu müssen. Stur auf irgendwelchen Prinzipien zu verharren, bringt nicht immer etwas. Wenn man offen für neue Dinge ist, so banal sie auch eigentlich scheinen mögen, freuen sich die Leute und man kann ihnen ein Lächeln aufs Gesicht zaubern und noch etwas lernen. Besonders auf Reisen finde ich es seither wichtig, mich anpassen zu können, mal über meinen Schatten zu springen und Sachen zu machen, die ich zu Hause vielleicht nicht machen würde.

Heute bin ich den Mädchen, deren Namen ich nicht mal mehr weiß richtig dankbar. Sie haben lächelnd und leicht, fröhlich und unbeschwert eine Schranke durchbrochen und ich habe gelernt, dass es manchmal sogar Spaß macht, sich zu verkleiden 🙂

mexiko xochimilco df

Mit dem Nachtzug nach Monterrey

Nach ungefähr einem Monat hatte ich so ziemlich alles Spannende in und um Mexiko City gesehen. Ich war in den schwimmenden Gärten von Xochimilco, habe mir den Popocatépetl ganz aus der Nähe angesehen und einen Ausflug nach Toluca und nach Puebla gemacht. Nach ein paar Wochen Entdeckungstour, relaxen und feiern, war es an der Zeit weiterzuziehen. Wieder über Andreas hatte ich einen Kontakt zu einer Familie in Monterrey gefunden. Eine nette, kleine Familie mit zwei Kindern und einer ganzen Horde Boxer, denn die Hundemama hatte gerade ein paar Tage zuvor süße Welpen geworfen.

Mit dem Nachtzug sollte es also Richtung Norden gehen. Kein ganz ungefährliches Unterfangen – sagte man mir. Allein als Frau, nachts im Zug, und das im machistischen Mexiko. Aber alles lief wie am Schnürchen. Ich schlief prima und jedes mal, wenn ich aus dem Fenster sah, waren da nur Sträucher und eine endlose Savanne. Kilometerweit nichts als wüste, öde Steppe, durch die der alte Zug langsam dahin tuckerte.

Mexiko Monterrey zugfenster

Irgendwann war ich dann da, ganz im Norden des Landes. Die „tomates“ hießen hier „jitomates“, und die roten „jitomates“ hießen „tomates“. Dabei hatte ich im Süden gerade erst gelernt, dass es überhaupt einen Unterschied zwischen den Tomaten gibt! Und in Monterrey machen sie nun wieder alles anders. Verkehrte Welt.

Die Familie nahm mich lieb auf. Ich durfte im Kinderzimmer schlafen. Gegessen wurde von Plastiktellern, die man nach dem Essen wegwarf. Das sei doch praktisch und man spare sich den Abwasch. Es war heiß. Um neun Uhr ging ich frisch geduscht nach draußen auf die Terrasse und war schon um zehn wieder total durchgeschwitzt. Es waren bestimmt an die vierzig Grad jeden Tag, und das schon morgens um zehn Uhr. Ich glaube, ich habe mich in Monterrey mindestens viermal am Tag geduscht!


Eines Abends durfte ich mit zu einem Fest, ein folkloristisches Fest mit Musik und Tanz. Sehr beeindruckend. Die typischen Mariachis gibt es in Monterrey gar nicht. Hier heißen die Folkloremusiker Norteños, obwohl die Musik für meine Ohren schon recht ähnlich klangt. Ich erinnere mich nur noch an die wehenden Kleider der Tänzerinnen. Wahrscheinlich hieß der Ort, an dem die Folkloretänze stattfanden“Hahnenkampf“ oder so ähnlich. Dort gab es nämlich eine Art Arena mit Tischen und Stühlen drum herum. Aber Tiere wurden da natürlich nicht aufeinander gehetzt.

Gewandert sind wir auch. Irgendwo mitten in den Wald hinein, bis zu einem Wasserfall. Da wurde dann gebadet und gerutscht und gepicknickt. Die gebratenen Hühnchen und andere Leckereien, die die mexikanische Mama für alle mitgenommen hatte, wurden hungrig verschlungen.

 Mexico monterrey wasserfall-im-urwald

Mein Spanisch machte Fortschritte. Täglich lernte ich neue Wörter dazu. Mit einem Buch versuchte ich mir die fehlende Grammatik allein abends im Bett zu pauken. Wenn die lieben Kleinen nicht immer wieder Roxette auf volle Lautstärke aufdrehten. Aber so alleine zu lernen, war doch ziemlich mühsam. Ein Sprachkurs schien mir angebracht. Also fuhr ich wieder zurück in den Süden, nach Cuernavaca.

Cuernavaca

Die Sprachschule war voller Amerikaner und Flugbegleiterinnen der Lufthansa. Alleinreisende wie mich gab es kaum. Ich war in einer Klasse mit den lustigen Stewardessen. Das Lernen ging nun richtig schnell. Eine super schöne Zeit. Nach vier Wochen parlierte ich auch endlich Spanisch – in der mexikanischen Version, was Michi, meinen spanischen Göttergatten, mit dem ich seit 2000 in der Nähe von Barcelona lebe, zu diversen Lachattacken gebracht hat, als ich ihn ein paar Jahre später kennenlernte. Die Unterschiede zwischen dem mexikanischen und dem spanischen Spanisch sind nämlich vielfältig. Ich benutzte nicht nur Worte, die er gar nicht oder in einer völlig anderen Bedeutung kannte, sondern ich wusste auch nicht, an welcher Stelle ich das blöde Lispeln einbauen musste und wo nicht. Am Anfang war das bei mir wirklich das reinste Chaos. Mittlerweile habe ich mich an seine Version gewöhnt und bin komplett „eingespanischt“. Jetzt kämpfe ich eher damit Katalanisch und Spanisch nicht zu sehr durcheinander zu würfeln.  Das ist gar nicht so einfach!

mexiko cuernavaca

Im Fernsehen erreichten mich Nachrichten über die Protestmärsche in der DDR. Das andere Deutschland schien immer weiter zu zerfallen. Im Westen gab  es immer mehr Leute, die über eine mögliche Wiedervereinigung sprachen. So ein Quatsch, dachte ich, da würde doch nie etwas draus werden. Obwohl die Idee schon spannend war, aber ich war mit der Mauer aufgewachsen und konnte mir einfach nicht vorstellen, wie diese zwei so unterschiedlichen Länder eins werden sollten …

Jedenfalls flog ich nach drei Monaten in Mexiko Ende Oktober wieder zurück nach Europa. Allerdings nicht nach Deutschland, sondern nach Frankreich, wo ich inzwischen einen Job gefunden hatte. Ab November würde ich in Paris Schallplatten verkaufen. Aber das ist wieder eine andere Geschichte.

Nur wenige Jahre später bin ich mit einer Freundin ein zweites Mal nach Mexiko geflogen. Eigentlich wird es höchste Zeit für ein drittes Mal. Aber irgendwie habe ich Angst, dass alles ganz, ganz anders sein könnte.