Eine letzte Frage, bevor der Herr Bürgermeister zur Ausstellungseröffnung mit dem berühmten Modedesigner, der extra aus Paris angereist ist, eilen muss. Das Interview ist kurz aber herzlich. Es geht um aktuelle und zukünftige Projekte in Sachen Kultur. In Montpellier ist alles Kultur, da hat der Herr Bürgermeister absolut recht. Die Stadt lebt schließlich von und mit der Kunst.
„Was sollte ich mir unbedingt ansehen, wenn ich das allererste Mal nach Montpellier komme?“ frage ich also. Monsieur le Maire setzt zu einer Antwort an, doch dann stutzt er. Er guckt mich an. „Das allererste Mal?“ „Ja, zum allerersten Mal in Montpellier“, antworte ich, etwas verunsichert. Er nickt und seine blauen Augen strahlen. „Die Katakomben“, verkündet er plötzlich sehr entschlossen. Dort gäbe es eine Mikwe, ein erstaunlich gut erhaltenes jüdisches Bad. Das sei nicht nur ein magischer Ort, sondern die Grundlage, um diese Stadt zu verstehen. Er klingt aufrichtig begeistert und zeigt mir sogar ein Foto.
(Foto © Céline – merci!)
Ich wusste gar nicht, dass es überhaupt Katakomben in Montpellier gibt – und sage das auch laut. Die hat bisher noch niemand erwähnt, und gelesen habe ich auch nichts darüber. „Es ist nur fünf Minuten von hier entfernt – ich habe den Schlüssel. Ich zeige sie Ihnen!“ ruft Monsieur le Maire fröhlich. Er wirkt echt entschlossen und meint das Ernst. Eigentlich soll er als Bürgermeister ja jetzt die Ausstellung eröffnen. „Warte kurz“, sagt er und verschwindet.
Drawing Room Eröffnung La Panacée : Jean-Charles de Castelbajac
Nach ungefähr zwanzig Minuten ist er wieder da. Die Ausstellung ist eröffnet. Den Sicherheitsbeamten erklärt er die spontane Planänderung. Und dann gehen wir tatsächlich den Schlüssel aus seinem Auto holen und machen uns zu Fuß auf den Weg zur Mikwe.
Obwohl er ein viel beschäftigter Mann ist, lässt er sich die Gelegenheit nicht entgehen, mir diesen Ort persönlich zu zeigen. Es ist ein wichtiges Stück Stadtgeschichte, denn in Montpellier sind viele unterschiedliche Kulturen zusammengekommen und haben die Stadt zu dem gemacht, was sie heute ist. Nach wenigen Minuten Fußmarsch stehen wir vor einer hohen alten Holztür. Monsieur le Maire zückt einen wunderschönen, langen Schlüssel. „Das ist der alte Schlüssel. Der passt natürlich nicht mehr, aber ich hebe ihn auf, weil er so schön ist“ grinst er schelmisch. Seine Frau steht neben mir. Sie läuft geduldig mit und kennt das schon. Sie hat sich an die spontanen Programmänderungen ihres Gatten gewöhnt.
Wir gehen durch einen Hof und durch eine Pforte, bis wir in einem winzigen Hinterhof vor einer alten Kellertür stehen. Doch dahinter ist alles dunkel. Das Licht funktioniert offenbar nicht. Wir behelfen uns mit den Handys.
Es funktioniert. Ein paar Stufen tiefer erkenne ich so etwas wie den Eingang zu einem alten Bad. Ein gemischtes Bad für Männer und Frauen – natürlich nicht gleichzeitig, sondern nacheinander – gab es hier. Direkt daneben befand sich ein geheimer Weinkeller. Das weiß man heute dank der Ausgrabungen, und der Gegenstände, die man hier gefunden hat. Noch etwas tiefer geht es zu einem antiken Umkleideraum. Noch ein paar Stufen und dann ist da das Wasserbecken.
Es ist, als ob ich ins Mittelalter hinabsteige. So, als ob ich der erste Mensch sei, der seit vielen Jahrhunderten zum ersten Mal diesen unterirdischen Raum betritt. Der Saal hat etwas Magisches. Es gibt solche Orte, die irgendwie ganz besonders sind. Ich kriege den Mund gar nicht wieder zu und bin total hin und weg.
In dem Becken vor mir ruht das bläulich schimmernde Wasser. Die Mauern sind nur schummerig erleuchtet. Irgendwie gelangt das Wasser durch unterirdischen Quellen in dieses Becken. Es ist total „limpia“ sagt Monsieur le Maire, und er benutzt dabei das spanische Wort, denn das drücke sowohl Sauberkeit als auch rituelle Reinheit aus.
Über dem Becken befindet sich ein Loch in der Decke des Kellers. Monsieur le Maire erklärt, dass die Leute hier Körbe mit Geschirr herunterließen, um auch ihre Teller vor dem Essen in einem rituellen Bad zu reinigen. Bei den Ausgrabungen stieß man auf Scherben von Vasen und Ölbehältern. Stolz zeigt er mir auf seinem Handy einige Fotos von den bunt bemalten Scherben, die hier gefunden wurden.
In Montpellier traf das Wissen der Kulturen aus Mesopotamien, Griechenland und Ägypten zusammen. Alle Religionen arbeiteten hier eng zusammen. Studenten aus ganz Europa strömten an die hiesige Universtät, die in dem Ruf stand, ein Hort des Wissens der jüdischen und arabischen Gelehrten zu sein.
(Foto © Céline – merci!)
Wir stehen noch einen Moment staunend in der Mikwé. Schweigend. Doch dann ist die Zeit des Herrn Bürgermeisters wirklich um und wir kehren zurück an die Oberfläche, ins Montpellier des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Die Welt hat uns wieder.
Montpellier im Mittelalter
Im späten Mittelalter lag die Mikwe mitten im jüdischen Viertel. Die Katholiken wollten oder durften sich im Mittelalter nicht mit Wechseln oder dem Verleih von Geld die Hände schmutzig machen, also übernahmen fast überall in Europa die jüdischen Einwohner der Städte diese Aufgabe.
Im Vergleich zu Städten wie Marseille oder Nimes war Montpellier damals noch sehr jung. Die Stadt entstand erst im zehnten Jahrhundert an den wichtigen Handelswegen, die damals hier vorbeiführten, nah am Mittelmeer, ohne jedoch den Angriffen von Piraten ausgesetzt zu sein, die damals an den Küsten ihr Unwesen trieben. Von hier aus konnte man also mit Barcelona, Paris mit Florenz und Rom Handel treiben. Oder auch mit Damaskus, wo die Scherbe herkam, die mir Monsieur le Maire in der Mikwe gezeigt hat.
Außer den Händlern kamen im Mittelalter auch viele Pilger in die Stadt, denn einer der französischen Jakobswege, die Via Tolosana, führt bis heute mitten durch Montpellier.
Montpellier blühte und florierte unter der Herrschaft der Könige von Aragon. Jaume I. der Eroberer, einer der bedeutendsten katalanischen Herrscher, wurde sogar in Montpellier geboren.
Wenn ich durch die Altstadt Montpelliers gehe, wirken die Häuser mit ihren hohen Fenstern und den meist hellblau gestrichenen hölzernen Fensterläden allerdings überhaupt nicht mittelalterlich auf mich. Doch in Wirklichkeit scheinen diese Häuser oft nur aus dem achtzehnten Jahrhundert zu stammen, in Wirklichkeit sind sei wesentlich älter. Das Wort „gotisch“ war eher so etwas wie ein Schimpfwort, denn man schämte sich geradezu der hässlichen alten Gebäude aus dem Mittelalter. Darum errichtete man einfach neue, moderne Fassaden im Stil der breiten, eleganten Boulevards des Stadtplaners Haussmann in Paris.
Doch hinter diesem neuen „Look“ blieben die alten Mauern bestehen. Der Kern Montpelliers stammt noch heute zum größten Teil aus dem Mittelalter, nur ist er sehr versteckt. Sobald man eines der großen Tore aufmacht, gelangt man in die mittelalterlichen Innenhöfe, die irgendwann im zwölften Jahrhundert errichtet worden sind.
Hinter den Fassaden versteckt sich das Mittelalter – Montpellier
Unter katalanischer Herrschaft des Königs von Mallorca Jaume III blühte der Handel und die Wirtschaft funktionierte. Doch 1349 war es mit dem Wohlstand vorbei. Jaume III brauchte dringend mehr Geld für die Feldzüge gegen seinen Bruder Pere el Ceremonios, den Grafen von Barcelona. Also verkaufte er Montpellier einfach an den französischen König Philippe IV le Bel. Statt wie bisher weitgehende Autonomie zu genießen, ging es unter dem absolutistischen König abwärts mit der Wirtschaft der Stadt. Hinzu kamen schlimme Krisen, Seuchen, die Pest und der Hundertjährige Krieg.
Erst im siebzehnten Jahrhundert erholte sich Montpellier wieder und Montpellier erlebte eine neue Blütezeit.
Infos : die jüdische Mikwe in Montpellier
Dieses jüdische Reinigungsbad aus dem dreizehnten Jahrhundert ist eine der ältesten und am besten bewahrten Mikwes in ganz Europa. In Girona gibt es zwar auch eine, aber die ist nicht ganz so gut erhalten.
Mikvé médiéval de Montpellier
1 Rue de la Barralerie
34000 Montpellier
Tramway : Linie 1 oder 2, Haltestelle: Comédie
Die jüdische Mikwe ist ein öffentliches Kulturerbe und für jedermann zugänglich. Der Besuch ist allerdings nur mit Guide im Rahmen einer Führung möglich. Infos dazu gibt es in der Office de Tourisme, die haben auch einen Schlüssel 😉
Mein Tipp: Wenn Du durch die Straßen von Montpellier bummelst, hebe ruhig einmal den Blick nach oben. Oft findest Du Teile alter Wände oder zugemauerte gotische Fenster aus dem Mittelalter. Und wenn irgendwo eine Hoftür aufsteht, versuche einen kurzen Blick zu erhaschen. Oft verstecken sich die schönsten Gemäuer direkt hinter den alten Türen!
Dieser Artikel entstand im Rahmen des #FrenchCultureAward 2017 auf Einladung von Atout France, dem Musée Fabre und Montpellier Tourisme. Meine Meinung ist davon unberührt. Mit diesem Beitrag nehme ich am French Culture Award 2017 teil.
Ja, es sind Plätze, wo man – wie Sie sagen – schweigend stehen kann, ob es nun Montpellier ist oder Köln, Speyer oder Worms, Andernach, Erfurt, Offenburg oder Friedberg, dessen Mikwe die größte erhaltene in Deutschland sein soll. Und sicher gibt es in Frankreich noch etliche mehr. Ich denke, man wird still, weil dieses komplette Eintauchen in das „lebendige Wasser“ bei gleichzeitigem Rezitieren von Segenssprüchen, die Reinigung also von levitischen Unreinheiten, das Selbe ist wie die Ohrenbeichte im Katholizismus und das Waschen der Gerätschaften der Synagoge der Segnung liturgischer Gegenstände wie Kelch und Patene gleichkommt, weil man also an einem sakralen Ort ist. Der Gläubige wird sagen, weil man hier die Gegenwart Gottes spürt.
ARTE hat derzeit in der Mediathek einen Bericht über die Installation der „Archäologie des Judentums“ in Frankreich, eine Doku, die sehr sehenswert ist und in der erklärt wird, wie Juden und Christen im Mittelalter – meistens konfliktlos! – zusammen lebten, entgegen der These, dass Juden schon immer beargwöhnt, gemieden und gehasst wurden.
Schöne Geschichte. Ich war selbst in Speyer vor ein paar Tagen und habe dort die älteste Mikwe nördlich der Alpen sehen dürfen – auch ein ganz magischer Ort.
Wirklich ein echt besonderer Ort! und so unglaublich gut erhalten! Ich glaube ich werde mich jetzt öfter auf die Suche nach solchen Plätzen machen!
liebe Grüße!
Nicole