Unter der Weichsel hindurch führt die nagelneue Metrolinie von Warschau nach Praga. Praga war früher eine ganz eigene Stadt. Seit 1791 ist sie ein Stadtteil der polnischen Hauptstadt. Ein typischer Arbeitervorort, nicht reich, nicht prunkvoll, sondern einfach und bescheiden. Am rechten Ufer der Weichsel gelegen war Praga in der Geschichte oft leichte Beute für von Osten kommende Angriffe auf die Stadt. Praga war nicht gut geschützt, schnell eingenommen und wurde oft verwüstet, bevor kämpfende Truppen den Fluss überqueren konnten, um ins „reiche“ Warschau zu gelangen.

Kneipe in Praga Warschau

Beinahe dörflich kommt einem Praga noch heute vor. Im Gegensatz zur Stare Miasko, der rekonstruierten Altstadt Warschaus, ist hier alles wirklich alt. Während die Häuser im wieder aufgebauten Stare Miasko nach dem Zweiten Weltkrieg Stein für Stein neu errichtet wurden, stehen hier noch „echte“ alte Häuser und Hinterhöfe. Sogar Kopfsteinpflaster gibt es auf einigen Straßen noch.

Praga Warschau Strasse

Viele Gebäude sehen leicht verfallen aus. Einschusslöcher in den Fassaden und bröckelnder Putz von grauen Wänden sind hier normal. Praga ist das authentische Warschau, gerade weil es „abseits“ liegt, und so oft von den Herrschenden unbeachtet links liegen gelassen wurde.

Museum Praga: Erzählte Geschichte

Muzeum Praga Warschau

Super spannend ist das Museum des Stadtteils. Völlig unspektakulär werden hier einfach Geschichten erzählt. Über einen ärmlich wirkenden Markt gelange ich von der Hinterseite zur Hauptstraße Targowa, an der sich der Eingang des Museums befindet. Es gibt keine permanente Ausstellung. Das Museum ist noch neu und wurde erst vor wenigen Monaten eröffnet. Dafür gibt es aber ein unglaublich beeindruckendes „oral archive“.

Ein netter junger Mann, der aussieht wie ein Mitarbeiter des Museums,  spricht mich direkt an und beginnt sofort, mir das Museum zu erklären. Viele Besucher scheinen sich noch nicht hierher zu verirren. Er führt mich in den ersten Stock, in einen fast leeren, riesigen Raum. Er gibt mir einen Kopfhörer und schickt mich auf Entdeckungsreise. Überall im Raum verteilt befindet sich Hörpunkte, an die ich mich per Knopfdruck mit meinem Kopfhörer einschalten kann. Verschiedene Bewohner des Viertels erzählen ihre Geschichten. Ich höre die Stimmen der Menschen, mit englischer Übersetzung, sonst würde ich ja leider nichts verstehen, die sich daran erinnern, wie es früher hier aussah. Eine Frau erinnert sich daran, wie ihre Mutter ein besonderes Stück Seife und Ginseng aus der Fabrik mit nach Hause brachte. Für das kleine Mädchen damals ein unvergessliches Ereignis. Ein älterer Mann erinnert sich an den Metzger weiter unten in der Straße, eine andere Frau berichtet von riesigen Vogelschwärmen, die fast den Himmel verdunkelten, wenn sie sich in die Luft erhoben.
Es sind lustige, alltägliche oder auch bewegende Geschichten. Mal kurz mal lang, aber immer sind es ganz persönliche Erinnerungen. An einer der Hörsäulen berichtet eine alte Dame von einem Besuch am Gericht. Zwei Fischverkäuferinnen hatten sich auf dem Markt gestritten und waren nun vor dem Richter gelandet. Sie gaben allerdings noch immer keine Ruhe und keiften und stritten, bis eine der beiden sogar ihren Rock hob und dem Richter das nackte Hinterteil präsentierte. Die Stimme in meinem Kopfhörer lacht herzlich und laut, während sie erzählt.

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Aber es gibt auch sehr traurige und bewegende Geschichten, wie die von dem Mann, der weinend vor einer Tür saß. Er hatte bei einem Brand im Krieg nicht nur seine Familie sondern auch sein ganzes Hab und Gut verloren. Nur ein paar Kilo Kartoffeln waren ihm geblieben. Um irgendwie überleben zu können und weiterzumachen so gut es ging, versuchte er diese Kartoffeln zu verkaufen. Auf dem schwarzen Markt gab es etwas mehr Geld, also versuchte er die Knollen irgendwie selbst an den Mann zu bringen. Eine „Volksdeutsche“, so nannten sich polnische/ deutsche Einwohner, die bestimmten Privilegien genossen (unter anderem eine bessere Lebensmittelversorgung, während alle andere schon am Verhungern waren), hatte bei ihm diese Kartoffeln bestellt. Sie wollte sie aber nicht zahlen, ohne sie probiert zu haben. So nahm sie die Kartoffeln, kochte sie und schmiss den Mann raus, ohne zu zahlen…

Der nette Mensch, der mich hier hoch geführt hat, erklärt mir, dass es noch viel mehr Aufnahmen im Archiv gibt und dass das Museum auch weiterhin Geschichten sammelt. Jeder der mag, kann mit seiner Geschichte herkommen. So gehen die Erinnerungen an alte Straßen, alte Häuser, Menschen, die hier früher lebten nicht verloren. Es ist wie der Name sagt, ein orales Archiv. Es gibt keine Bilder oder Videos, nur ein paar Stühle und Kissen auf die man sich setzen kann, um in Ruhe zuzuhören.

Ich finde dieses Konzept unglaublich beeindruckend. Eine erzählte Geschichte hinterlässt einen ganz anderen Eindruck, als ein Text oder ein Bild. Sie ist persönlicher, hat eine Stimme. Menschen erzählen auch anders, als sie schreiben. Das kleine Schmunzeln, ein Seufzer, eine Pause an einer bestimmten Stelle, würden beim Aufschreiben dieser Geschichten fehlen.

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In einem anderen Gebäude im Hinterhof wurden bei den Restaurierungsarbeiten zufällig Reste eines Wandgemäldes entdeckt. Ein Raum ist mit einem jüdischen Zyklus der Tierkreiszeichen dekoriert. In einem anderen Raum erahnt man noch ein Gemälde, das ein Gebet an der Klagemauer in Jerusalem darstellen soll. Die Restaurierung war wohl nicht so einfach. Eine Werkstatt und eine Garage befanden sich in diesem Gebäude und hatten über Jahrhunderte diese Bilder hinter Farbe und Putz versteckt.

Warschau Museum Praga Ausschnitt Malerei jüdisch

warschau museum praga malerei

Warschau Museum Praga Wandgemälde

Vom Hof aus führt eine Treppe auf eine kleine Aussichtsterrasse. Von dort hat man einen Blick auf das Viertel und den alten Markt, auf dem sich Bude an Bude, dicht an dicht gedrängt, die Stände bis zur nächsten Straßenzeile erstrecken.

Warschau Praga Markt Aussicht Museum

Brautkleider Markt Praga

Sogar Brautkleider gibt es auf dem kleinen Markt zu kaufen!

Nützliche Infos:
Museum Warszawskiej Pragi
pl. ul. Targowa 50/52
Warschau
Metro: letzte Station der Metrolinie 2 – Dw. Wilenski

Das Museum wurde erst 2014 eröffnet
Eintritt: kostenlos
Website: www.museumpragi.pl

 

praga Warschau

Warschau in Praga Figuren