In der Ferne lassen sich immer mehr dunkelgrün bewachsene Berge erblicken. Es geht langsam aber sicher bergauf in die Vorpyrenäen. Kurz nach Ruesta, am Yesa-Stausee, erreichen wir die aragonesisch-navarrische Grenze. Die Luft ist hier feuchter und kühler als in Aragón. Die Natur ist ein kleines bisschen wilder und es fühlt sich an, als ob die Landschaft nach einer langen Durststrecke wieder aufatmet.
Navarra ist unser Tor zur Atlantikküste. Der Übergang von der gold-gelben Wüstenlandschaft Aragons zum blau-grünen, bergig-kühlen Norden Spaniens. Der erste Eindruck von Navarra ist von dem großen Kontrast zu den Landschaften, die wir bisher auf unseren Rädern erobert haben, geprägt. In Katalonien führte der Jakobsweg immer weiter weg von der Küste, ins Landesinnere. In Aragón hatten wir in der wüstenartigen Ebene von Huesca, wo sich unendlich lange, schnurgerade Straßen bis zum Horizont durch die Landschaft ziehen, beinahe das Gefühl zu vertrocknen. In Navarra hingegen scheint es gerade Linien überhaupt nicht zu geben, denn die Wege, die uns die gelben Pfeile in Richtung Santiago de Compostela aufzeigen, werden immer kurviger und steiler.
Es sind nicht wenige Strecken des Jakobsweges, die hier in Navarra aufeinander treffen. Vom Bergpass in Roncesvalles, nahe an der französischen Grenze bis kurz vor Logroño verläuft der beliebteste Jakobsweg, der Camino Francés. Ein großer Anteil des Pilgerstroms ist auf dieser Strecke unterwegs. Da wir aber aus dem Osten, über den Camino Aragonés kommen, folgen wir nicht dem Hauptstrom. Unser erster Stopp ist Sangüesa.
Sangüesa
An welcher Stelle genau die Grenze zwischen Aragón und Navarra verläuft, wissen wir bis heute nicht. Nachdem wir Ruesta hinter uns gelassen haben, führen die gelben Pfeile einen ziemlich steilen Waldweg auf den Monte Fenerol hinauf und anschließend auf Sandwegen wieder bergab, vorbei an Äckern und Getreidefeldern bis Sangüesa. Das Erste, was mir in dieser Stadt auffällt, sind die zweisprachigen Schilder an den Straßen, in Spanisch und Baskisch. Von zu Hause in Katalonien bin ich zwar Zweisprachigkeit gewohnt, aber der Unterschied zwischen Katalanisch und Spanisch ist nicht so groß, weil die beiden Sprachen miteinander verwandt sind. Die baskischen Wörter haben dagegen oft nicht einen einzigen Buchstaben mit dem spanischen Wort gemein. Ein Wort verstehe ich trotzdem recht schnell, denn es steht an allen Straßenecken: Kalea – die Bezeichnung für Straße.
Sangüesa liegt an der Ria de Aragón und ist deutlich von der Pilgerkultur geprägt. Überall hängen Schilder mit Muscheln, an allen Ecken sind gelbe Pfeile und die Schriftzüge “Buen Camino” gemalt. Den ganzen Fluss entlang bieten die großen Bäume in der Sommerhitze netterweise ein wenig Schatten. Ganz nah am Fluss, dort, wo die Brücke beide Ufer verbindet, liegt die Altstadt. Die Parroquia der Santa María la Real ist der ganze Stolz dieser kleinen Stadt. Eine romanische Kirche mit einem besonders auffälligen Südportal, das an eine Puzzlebox erinnert. Drei üppig verzierte Spitzbögen zieren das Haupttor. Der Anblick der Kirchenfassade macht mich nachdenklich. Es ist schon krass, wie sehr Glaube und Religion unsere Kultur auch heute noch prägen.
Ich weiss nicht mehr genau, an welcher Stelle wir uns entschieden haben, dem GPS statt der Wegmarkierung zu folgen. Manchmal kommt es vor, dass mehrere Pfeile in verschiedene Richtungen zeigen, oder dass der eigentliche Camino nur zu Fuß, nicht aber mit dem Rad zugänglich ist. Oder, dass das GPS eine Abkürzung kennt. Irgendwie waren wir plötzlich oben auf einem Berg, mitten in einem Windpark, voller riesiger Windräder. Don Quijote wäre hier garantiert ausgeflippt. Eine ganze Armee an Riesen hätte er hier bekämpfen müssen.
Auf dem Weg hinunter macht Andreu plötzlich eine Vollbremsung. Ein Haufen doof glotzender Stiere steht 20 Meter vor uns. Die Hörner sind Superlativ. Erst vor Kurzem hatte mein Bruder mir erzählt, dass viel mehr Menschen von Kühen niedergetrampelt werden, als bei Haifischangriffen sterben. Eigentlich sollte diese Information dazu dienen, die Angst vor Haifischen zu verlieren, aber in dieser Situation konnte ich den Satz nicht mehr aus dem Kopf kriegen. Waren das vor uns wilde Stiere?
Bestimmt fünfzehn Minuten standen wir still, fast mit angehaltenem Atem, ohne uns zu bewegen. Man konnte deutlich sehen, wer hier das Alphatier war. Wie ein Türsteher stand ein weißer, dicker Stier mitten im Weg, so als wolle er sagen “Ihr kommt hier nicht durch.” Leider gab es aber keinen anderen Weg. Irgendwann sind die anderen Rinder dann aber langsam in den Wald spaziert, bis schließlich auch der Türsteher den Weg freigegeben hat. Ufff…
Als wir endlich vom Berg herunterkommen, geht es im Valle de Elorz auf einer Art Geisterstraße weiter. Die “Antigua Carretera de Jaca” war früher viel befahren, doch heute fahren alle Autos lieber auf der Autobahn und die breite Landstraße wird nur noch ab und zu von einigen Radfahrern genutzt. Umso besser für uns. Kurz danach kommen wir nach Monreal, ein kleines Dorf mit einer Burg und einer mittelalterlichen Brücke. Direkt neben der Kirche gibt es sogar eine kleine Bar.
Puente la Reina
Weil wir Puente la Reina noch sehen möchten, bevor wir in Pamplona den Anschluss zum Camino del Norte aufsuchen, machen wir einen kurzen Schlenker. In Puente la Reina geht der Camino Aragonés auf den Camino Francés über. Der Pilgerstrom in der Herberge in Puente la Reina kommt hier deswegen aus Pamplona, von der vorherigen Etappe des Camino Francés. Wir nutzen die Strecke aber in der entgegengesetzten Richtung, um den Übergang zum nördlichen Jakobsweg zu finden.
Die Herberge in Puente la Reina hat einen Swimmingpool, aber der ist wegen Corona noch geschlossen. Für etwas weniger Geld dürfen wir draußen campen. Wir nutzen den Tag zum Entspannen und zum Wäschewaschen, was oft nicht so einfach ist, denn die Wäsche muss ja auch noch trocknen. Am nächsten Tag trennt uns nur noch der 770 Meter hohe Alto del Perdón von Pamplona. Die Berge werden in Navarra immer gewaltiger, doch sie sind nur ein Vorgeschmack auf das, was uns im Baskenland erwartet.
Pamplona
In Großstädten ist die Ankunft mit dem Fahrrad immer so eine Sache. Meistens führen die Strecken durch Industriegebiete im äußeren Gürtel der Städte, ohne eine fahrradfreundliche Infrastruktur. Das war bei Pamplona keine Ausnahme. Nachdem wir bei einem Fahrraddoktor vorbeigeschaut haben, weil Andreus Bremsen nachließen, ging es zur Pilgerherberge. Die Albergue de Jesús y Maria in Pamplona hat zwar viel Kapazität, aber man fühlt sich dort wie Hühner im Stall. Es ist ziemlich unpersönlich, wie in einem Lager. Nicht einmal getrennte Waschräume gibt es.
Sobald es Abend wird, beginnt die Stadt zu leuchten und zu funkeln. Es gibt nur wenige Restaurant-Terrassen, alle sitzen hier auf hohen Hockern an Stehtischen. Die Männer tragen fast alle kurz rasierte Haare, Ohrringe und T-Shirts mit politischen Statements. Wir können nicht lange am Nachtleben teilhaben, denn die Pilgerherberge schließt schon um 23 Uhr.
Ähnlich wie bei der Ankunft ist es oft eher unangenehm aus Großstädten herauszufahren. Einer der Nachteile mit dem Fahrrad unterwegs zu sein, ist, dass man die “Poligonos”, die hässlichen Seiten der Industrieviertel vieler Großstädte nicht vermeiden kann. Da muss mann durch. In Pamplona war das überraschenderweise aber nicht der Fall. Vom GPS geleitet, führte unsere Strecke aus Pamplona heraus durch einen grünen Park und auf hübschen Sandwegen nach Sarasa, wo die Via Verde de Plazaola beginnt.
Via Verde Plazaola
ÜBERGANG ZUM CAMINO DEL NORTE
Für alle die auf dem Fahrrad unterwegs sind, vorausgesetzt, sie wollen Richtung Norden fahren, ist die Via Verde der Plazaola eine nette Alternative zum Jakobsweg. Eigentlich ist sie fast schon ein Muss. Bei dieser Via Verde handelt sich um eine stillgelegte Bahnstrecke, die einst Pamplona mit San Sebastián verband. Ein kleiner Zug transportierte auf der 1914 eingeweihten Strecke vierzig Jahre lang die in den Minen abgebaute Kohle, bis die Stollen wegen Überschwemmungen in den 50er Jahren geschlossen wurden.
Das Spannende an dieser Via Verde ist, das sie mitten durch die navarrisch-baskische Gebirgskette verläuft. Normalerweise würde das ein andauerndes Auf und Ab bedeuten, aber zum Glück gibt es zahlreiche Tunnel, die das vermeiden und einfach durch den Berg hindurch führen!
Die erste Steigung est heftig, – ich habe mein Fahrrad geschoben – aber danach geht es ziemlich ebenerdig weiter. Und die Tunnel, der längste ist beinah drei Kilometer lang, sind ein echtes Abenteuer. In den Prospekten hatten wir schon gelesen, dass manche von ihnen nicht beleuchtet sind (die meisten sind mit Beleuchtung ausgestattet). Nachdem bei den ersten Tunneln das Licht automatisch bei Bewegung angegangen war, hatten wir dann doch ein bisschen Schiss, als wir später ein paar dieser Tunnel in kompletter Dunkelheit durchradeln mussten, ohne etwas zu sehen. Theoretisch hatten wir zwar unsere Fahrradlichter dabei, aber die waren schlauerweise noch nicht montiert.
Also geht es ab in die Dunkelheit, im schwarzen Nichts verschwinden, ohne den Ausweg zu sehen! Es ist schon ein krasses Gefühl, so als ob du dich nach hinten fallen lässt und darauf vertraust, dass dich jemand hält. Oft ist es in diesen Tunneln kühl und nass, und wir fahren durch Pfützen auf dem Boden, in denen das Wasser spritzt. Jedes Mal, wenn wir aus einem Tunnel herauskommen, sind wir mit Dreck besprenkelt.
Ich denke die ganze Zeit über, dass so etwas in Deutschland bestimmt nicht gehen würde. So ganz und gar ohne Sicherheitsmaßnahmen, aber dafür ist es hier umso spannender.
Lekunberri
Kurz nach dem Wasserfall Cascada Ixkier erreichen wir Lekunberri. Wir übernachten auf dem Campingplatz in Lekunberri. Auch Ernest Hemingway übernachtete hier auf seiner Reise durch Navarra. Die Bahnschienen sind zwar noch erhalten, doch das, was früher ein Bahnhof war, ist jetzt ein Café. Es gibt zwei kleine Lebensmittelläden. Auf dem Hauptplatz spielen Kinder, während ihre Eltern auf den Terrassen der Bars ein Bier trinken oder einen Kaffee schlürfen. Als wir eine Sidra bestellen, erklärt die Kellnerin uns, dass “Sagarra” Apfel, und ”Sagardoa” Apfelwein heißt. Als Andreu sich einschenken will, bekommt er Schimpfe: Man muss das Glas in einem 45-Grad-Winkel halten!
Als eine merkwürdige Hup-Melodie erklingt, laufen alle Kinder plötzlich zu ihren Eltern. Sie betteln um Kleingeld, um sich ein Eis zu kaufen! In den kleinen Dörfern kommt das Eis nämlich noch mit diesem bunten, lustig hupenden Eiswagen. Der Eismann ist da! Alle holen sich rosa oder schlumpfblaues Eis und schlecken um die Wette.
Am nächsten Tag geht es weiter. Ein säuerlicher Geruch nach gegorenen Äpfeln und Kuhmist wird immer präsenter. Ab und zu guckt uns ein Esel oder eine weidende Kuh scheinbar verwundert an. Weil ein netter Opa uns darauf hingewiesen hatte, dass der Abschnitt zwischen Lekunberri und der nächsten Station des Plazaola wegen Bauarbeiten gerade gesperrt ist, fahren wir zunächst ein Stück auf der Landstraße. Dann treffen wir Janis und Bella von Radaventuras. Ein nettes, witziges deutsch-venezolanischens Pärchen, das auf derselben Strecke unterwegs ist, wie wir. Zu viert radeln wir also die Via Verde del Plazaola entlang, während die Zahl der vor uns liegenden Kilometer immer weniger wird. Die Zeit vergeht wie im Flug. Wir müssen kaum in die Pedale treten, rollen und rollen immer weiter. Dann kommen wir zum km 0, der Grenze zum Baskenland.
Gemeinsam beschließen wir, nicht nach San Sebastián abzubiegen, sondern den nächsten Ort auf der Karte zu erreichen: Orio. Dort verläuft der offizielle Camino del Norte. Davon, wie es auf dem Camino del Norte im Baskenland weitergeht, berichte ich im nächsten Artikel.
Zusammenfassung der Etappen
- Ruesta – Sangüesa – Monreal / Elo
- Monreal / Elo – Puente la Reina (über Umweg) – Pamplona
- Pamplona – Sarasa – Lekunberri – Orio (Kein Jakobsweg, Via Verde del Plazaola)
Wenn Du unsere Geschichten über die dürre Wüstenlandschaft in Aragon lesen möchtest, über die grünen Weiden, hohe Berge und steile Kliffs der Nordküste, oder die moosbedeckten Schiefersteine in den nebeligen galizischen Wäldern, stay tuned!
Part 1: Der Camí de Sant Jaume
Part 2: Es geht weiter auf dem Camino Aragonés
Part 3: Der Übergang zum Camino del Norte in Navarra
Part 4: Fahrradpilgern am Atlantik – Baskenland
Part 5: Kantabrien – Jakobsweg in Nordspanien
Part 6: Auf zwei Rädern durch Asturien
Part 7: Ende des Jakobswegs mit Satteltaschen – Santiago de Compostela
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