Wir spazieren durch den winzigen Ort, ganz oben an der nördlichen Grenze Spaniens. Auf der anderen Seite des Berges liegt Frankreich. Von dort ist Walter Benjamin damals zu Fuß hierherkommen. Um mehr über die Geschichte des deutschen Philosophen zu erfahren, treffe ich mich in Portbou mit Pilar Parcerisas. Pilar ist in der Welt der Kunst zu Hause. In Katalonien ist sie keine Unbekannte, aber auch an vielen internationalen Projekten arbeitet sie mit. Portbou und die Geschichte Walter Benjamins liegen ihr besonders am Herzen.
Portbou – der Bahnhof
Wir gehen zunächst zur Bahnstation. Ein mächtiger Bahnhof, fast so groß wie das ganze Dorf. Früher war Portbou das Eingangstor nach Spanien, alle Züge kamen hier entlang. Für die Spanier war Portbou das Tor nach Europa. Mit der Einführung der neuen Bahnlinie des Schnellzugs AVE, die statt über Portbou nun über La Jonquera führt, scheint das kleine Dorf und diese Bahnstation jedoch in Vergessenheit geraten zu sein. Trotz vieler am Strand spielender Kinder und ein paar französischen Touristen wirkt Portbou wie in einem Dornröschenschlaf.
Der Bahnhof ist wunderschön. Die Handschrift des Eiffelturmerbauers Gustav Eiffel ist nicht zu übersehen. Beziehungsweise die seines Büros, das für die Errichtung der Bahnhofshalle verantwortlich war. Ein Koloss aus Stahl, zur Weltausstellung 1929 in Barcelona entworfen, versetzt mich sofort hundert Jahre in der Zeit zurück. Das kleine Bahnhofscafé, in dem einst reger Betrieb herrschte, ist längst geschlossen. Auch das pompöse Hotel Terminus, in dem König Alfons XIII übernachtete, wenn er auf Reisen war, gibt es nicht mehr. Heute halten hier nur noch wenige regionale Züge. Gerade fährt ein aus Frankreich kommender Zug ein. Zwei verloren wirkende Backpacker steigen aus. Grenzkontrolle.
Das überdimensionierte Zollhaus steht ebenfalls leer. Ebenso verlassen wirkt das Gebäude, in dem früher die Lokführer untergebracht wurden, wenn sie ihre Fahrt in Portbou beendet hatten. An der Hauswand sind noch Einschusslöcher der Luftangriffe italienischer Truppen aus dem Spanischen Bürgerkrieg zu erkennen. Still verfällt dieses Stück Zeitgeschichte langsam aber sicher vor sich hin.
Walter Benjamin: Berlin-Paris-Portbou
Berlin, Paris und Portbou. Das sind wohl die drei wichtigsten Stationen im Leben Walter Benjamins. 1892 wurde der Philosoph in Berlin als Sohn eines jüdischen Antiquitätenhändlers geboren. Im Ersten Weltkrieg verlor die Familie ihr gesamtes Vermögen. Benjamin war nie sonderlich an Religion interessiert. „Er war eher ein Wissenschaftler, ein Denker, ein Philosoph“, erzählt Pilar, während wir im Centre Civic die wenigen Fotos und Dokumente, die es in Portbou noch über Walter Benjamin gibt, betrachten. 1917 heiratete er Dora Kellner und hatte mit ihr einen Sohn, Stefan. Doch die Ehe hielt nicht lange. Nach dreizehn Jahren trennte sich das Paar. Ein einfacher Mensch war Benjamin sicher nicht. Dem großen Denker fiel es schwer, sich in ein “normales” Leben einzugliedern. Er kümmerte sich nicht besonders um seine Gesundheit und war oft kränklich.
Zu den Philosophen der Frankfurter Schule, besonders zu Adorno, hatte Benjamin eine enge Verbindung. Er publizierte verschiedene Schriften, übersetze Marcel Proust, arbeitete mit Berthold Brecht zusammen, und er reiste nach Moskau und Kopenhagen. Walter Benjamin war Europäer durch und durch.
1933 floh er vor den Nationalsozialisten, die in Deutschland die Macht ergriffen hatten, nach Frankreich. 1939 dann die Enteignung. Nicht einmal die deutsche Staatsangehörigkeit liess man ihm. Mehr schlecht als recht überlebte Benjamin in Paris, wo er auch Hannah Arendt kennenlernte. Horkheimer und andere aus Deutschland geflohene Exilanten versuchten ihn zur Ausreise in die USA zu überreden. Doch eigentlich wollte Benjamin nicht nach Amerika. Er sprach kein Englisch und wollte in Europa bleiben. Schließlich gab es jedoch keinen anderen Ausweg mehr. Sein Bruder Georg war bereits im Konzentrationslager Auschwitz gestorben. Auch Walter Benjamin selbst wurde in Frankreich drei Monate in einem Lager bei Nevers festgehalten. Mittlerweile hatten seine Freunde ihm ein Visum für die Vereinigten Staaten besorgt. Die Fluchtroute sollte über Spanien und Portugal nach New York führen. Mit dem letzten Zug verließ Benjamin Paris, kurz bevor die deutschen Truppen dort einmarschierten.
Im Hintergrund: Haus am Hang, der alte Grenzübergang in Portbou
Von Südfrankreich aus machte sich der Philosoph gemeinsam mit Lisa Fittko zu Fuß auf den beschwerlichen Weg über die Grenze. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits kränklich und musste oft stehen bleiben. Doch irgendwie schaffte er es, in Portbou anzukommen. Sobald die beiden die Grenze überschritten hatten, wurden die Flüchtenden von der spanischen Polizei angehalten. Benjamins Papiere für die Einreise in die USA waren zwar in Ordnung, aber er hatte keine offizielle Ausreisegenehmigung aus Frankreich.
Das von Franco regierte Spanien war zu dieser Zeit nicht gerade ein Hort der Sicherheit für Menschen wie Walter Benjamin. Franco buhlte um die Gunst Hitlers und machte gemeinsame Sache mit den Nationalsozialisten. Ungefähr zur selben Zeit, zu der Benjamin auf der Flucht war, wurde der 1939 vor Francos Regime nach Frankreich geflüchtete Präsident der katalanischen Generalitat Lluís Companys, in Frankreich gefangen genommen. Companys gehörte der linken republikanischen Partei Kataloniens (ERC) an. Er wurde ausgeliefert und in Barcelona auf dem Montjuïc hingerichtet.
Vor diesem Panorama muss man sich Benjamins hoffnungslose Situation vorstellen. Der große Philosoph, damals ein Unbekannter, schrieb einen letzten Brief, es war ein Abschiedsbrief an seinen Freund Adorno. Noch in der Nacht nahm er sich mit einer Überdosis Tabletten das Leben.
Walter Benjamin Memorial:
Auf dem Weg zu der Gedenkstätte kommen wir an dem Haus vorbei, in dem Walter Benjamin seine letzten Stunden verlebte. Doch das granatrote Privathaus, das einst das Hotel de Francia war, weist außer einer kleinen Gedenkplakette keinerlei Anzeichen der dramatischen Erlebnisse von damals auf.
Immerhin wurde eine kleine, dem Hotel gegenüberliegende Gasse, nach Walter Benjamin benannt. Pilar hat schon Ideen, wie sie wenigstens diese kleine Passage in ein offenes Benjamin-Kunstwerk verwandeln könnte. Ich bin begeistert von ihrer Idee, und sehe das Bild sofort vor mir. Wenn nur nicht immer das Geld fehlen würde. Portbou ist nicht gerade ein reiches Dorf. In Zeiten wirtschaftlicher Krise werden eben andere Prioritäten gesetzt. Da steht das Thema Kultur ganz hinten an.
Wir schreiten den kurzen Weg hinauf, auf den kleinen Hügel, auf dem sich die Gedenkstätte befindet. 1994 errichtete Dani Karavan dieses Monument aus drei Teilen.
Ein Tunnel aus Stahl. Eine Treppe führt den steilen Hang hinab zum Meer. Am Ende des Tunnels sehe ich das Licht. Je weiter ich hinabsteige, umso besser kann ich das wilde, strudelnde Wasser des Mittelmeeres sehen, das sich an den Felsen bricht. Über mir öffnet sich der Tunnel und gibt den Blick auf Himmel und Berge frei. Dieselben Berge, die Benjamin vor über siebzig Jahren auf seinem Weg hierher überquert hat. Es ist merkwürdig, diese Stufen hinabzusteigen. Einerseits fühlt es sich an, wie ein Abstieg, wie ein Weg in den Tod, aber andererseits ist der Weg auch voller Hoffnung. Wir stehen vor eine Glasscheibe. Die Treppe geht weiter ins Nichts, aber wir müssen an dieser Stelle anhalten. Auf der Scheibe ist ein Satz von Benjamin zu lesen:
Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten.
Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht.
Wir steigen die Treppe wieder hoch. Beim Aufstieg sehe ich wieder den Himmel und die Wolken am Ende des langen Ganges. Doch als wir oben ankommen, führt der Weg aus dem Tunnel direkt gegen eine Mauer aus Stein. Hier geht es nicht weiter.
Über einen Trampelpfad aus Steinen und Erde geht es zum zweiten Teil des Monuments, einer anderen Treppe. Karavan hat mit Absicht keine schöne, einfach begehbare Route gewählt. Der Pfad sollte so ursprünglich belassen werden, damit der Besucher seinen Weg über Stock und Stein des hügeligen Geländes finden muss. Wie Benjamin damals.
Ich setze mich einen Moment auf die Treppe. Ich sehe den Tunnel, das Meer, die Berge und einen Olivenbaum, der direkt vor mir steht. Noch ein paar Meter weiter gelangen wir zum dritten Teil, einer schlichten Plattform, in deren Mitte sich ein kleiner Quader erhebt wie ein Hocker. Pilar setzt sich. Sie sieht zwar die Berge auf der anderen Seite der Bucht, aber direkt vor ihr befindet sich ein Zaun. Dann erhebt sie sich, verändert ihre Position und stellt sich auf den Würfel. Nun kann sie über den Zaun hinüber auf die andere Seite sehen.
Etwas weiter liegt der kleine Friedhof Portbous. Das Grab Walter Benjamins gibt es leider längst nicht mehr. Stattdessen hat man ihm aber einen Gedenkstein in der Mitte des Friedhofs errichtet.
Im Jahr 2014 feierte Portbou das zwanzigjährige Jubiläum der 1994 errichteten Gedenkstätte. Dani Karavan, Wim Wenders udn vieel andere berühmte Persönlichkeiten kamen. Gern würde Pilar hier ein richtiges Museum einrichten, denn bisher gibt es nur eine kleine Ausstellung im Eingang des Centre Civics. Ideen für ein solches Museum gibt es auch bereits. Norman Foster hat sogar Interesse geäußert, das Gebäude zu entwerfen. Aber wie immer fehlt es bisher an der Finanzierung. Ich drücke die Daumen!
Interessante Infos und Links zu Walter Benjamin:
Die Zeit „Komplettansicht“: www.zeit.de
Die Zeit „Buch der Blitze“: www.zeit.de
Deutschlandfunk „Sterben in Portbou“: www.deutschlandfunk.de
Wikipedia Gedenkort Passagen
Hallo Nicole,
was für ein guter, informationsreicher Text!
Danke!
Danke!
Hallo Nicole,
finde toll, dass Du dieses schlimme Kapitel deutscher Geschichte nicht aussparst, und auch in Spanien augespürt hast. Hab mich während meines Studium viel mit den deutschen Autoren aus dieser Zeit beschäftigt, und damit was Deutschland an Kultur und großen Köpfen verloren hat. Benjamin habe ich aber auch nochmal in der LÜ gemacht, lange bevor ich überhaupt ans Literaturübersetzen dachte. Hast da mit deinem Beitrag einige Erinnerungen geweckt.
Liebe Grüße
Klaus
Danke Dir! Ich muss zugeben, dass ich an der Uni zwar Adorno und andere „Frankfurter“ gelesen habe, aber Benjamin ist mir irgendwie „entwischt“. Jetzt, wo ich seine Lebensgeschichte kenne, werde ich das echt schleunigst nachholen! 🙂