Der graue Tisch aus kaltem Stein ist leicht nach innen gewölbt, damit die Flüssigkeiten besser ablaufen können. Hier lernten die angehenden Mediziner im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert, wie ein menschlicher Körper von innen aussieht. Die erste Leiche, die man hier sezierte, war allerdings ein Frosch. Das erklärt uns jedenfalls Mateu, der Guide, der ein paar ältere katalanische Herrschaften und mich durch das Gebäude führt.
Bei der Gründung dieser Chirurgenschule im achtzehnten Jahrhundert hatten sich zum ersten Mal in der Geschichte Kataloniens Mediziner und Chirurgen zusammengetan. Bis dahin wurden alle Arten von Eingriffen in den menschlichen Körper von Badern und Barbieren erledigt. Da sie kranke Menschen berührten und „unreine“ Tätigkeiten wie Zähne ziehen oder den Aderlass ausführten, hatten diese Berufe einen zweifelhaften Ruf. Es war also durchaus revolutionär, dass sich nun auch die Mediziner mit diesen Aufgaben beschäftigten, um herauszufinden, wie der menschliche Körper funktioniert.
Direkt nebenan lag das wichtigste Krankenhaus der Stadt, das Hospital Santa Creu. Seit seiner Einrichtung 1401 versorgten die Geistlichen dort bis zu vierhundert oder gar fünfhundert Patienten. Vermutlich fand in diesem Krankenhaus auch bereits so etwas wie eine allgemeine Ausbildung der Mediziner statt. Der erste anatomische Hörsaal, noch aus dem sechzehnten Jahrhundert, war komplett aus Holz gebaut und hatte nicht mal ein Dach. Als man im achtzehnten Jahrhundert dann ein komplett neues Gebäude errichtete, in dem die Chirurgen ausgebildet werden sollten, verwendete man ausschließlich Steine für den Bau. Durch das kalte Material sollten die Räume im Inneren des Gebäudes so kühl wie möglich gehalten werden.
Da es im achtzehnten Jahrhundert noch keine elektrischen Kühlanlagen gab, konnte man nur im Winter und nur bei Tageslicht sezierten. Am Abend reichte das Licht ganz einfach nicht aus. Das Glas des beeindruckenden Leuchters, der hier oben unter der Decke schwebt, soll übrigens aus Venedig stammen und extra für den Anatomiesaal hierher transportiert worden sein. Da hat man keine Kosten gescheut.
Mateu erklärt uns, dass die Mediziner sich anfänglich damit zufriedengeben mussten, das Innenleben toter Tiere zu erforschen. Man muss bedenken, dass es im tief religiösen Mittelalter bereits eine Sünde darstellte, nackt zu sein oder gar nackt gesehen zu werden. Einen toten Körper aufzuschneiden und in ihn hineinzusehen war ein Ding der Unmöglichkeit. Eine Todsünde, an die man nicht einmal denken konnte. Doch schließlich machte die Kirche Zugeständnisse an die Forschung und erlaubte irgendwann die sterblichen Überreste von hingerichteten Verbrechern zu untersuchen, denn die würden ja sowieso in der Hölle landen. Doch noch immer waren besondere Erlaubnisse der Kirche, viele Gebete und Reinigungsrituale nötig. Später durften dann auch Obdachlose oder nicht identifizierte Personen zu medizinischen Zwecken seziert werden.
Die Hände waren die Augen der Chirurgen: Sie mussten mit den Händen das Innenleben der Lebewesen untersuchen und konnten oft nur fühlend und tastend ihrer Arbeit nachgehen.
Aber genau das, was verboten ist, reizt uns Menschen ja meistens besonders. Auch wenn das Sezieren von Leichen sicher kein schöner Anblick war, so gab es doch auch unter den geachteten Bürgern, Adeligen und Regenten neugierige Herrschaften, die sich gern selbst ein Bild davon machen wollten, wie so etwas aussieht. Durch einen geheimen Gang konnten sie hinter den Sichtschutz in der Galerie über dem Auditorium an einer Unterrichtsstunde teilhaben und unerkannt wieder verschwinden.
Unter den Sitzbänken mit den schweren Holzstühlen gab es noch mehr Gänge. Durch diese versteckten Flure schaffte man die Leichen fort, um während der Vorlesung die Studenten nicht zu stören. Direkt neben dem Gebäude befindet sich heute eine kleine Plaça. An genau derselben Stelle lag früher ein Armenfriedhof, auf dem die sezierten Leichen verscharrt wurden.
Die Anatomiekurse wurden jedoch nicht nur im großen Anatomiesaal durchgeführt. Mateu meint, vor zweihundert Jahren dienten alle Räume der Schule dazu, das Innenleben des menschlichen Körpers zu studieren. Auch in den Räumen im oberen Stockwerk wurde also seziert. Heute hat die Königliche Akademie der Medizin Kataloniens in diesem Gebäude ihren Sitz. Die prächtige Bibliothek und der altehrwürdige Versammlungsaal sind schnell bestaunt. Die samtigen Sessel verströmen noch immer den angestaubten Charme der Jahrhundertwende.
Infos zur Geschichte der Medizin in Barcelona
Reial Acadèmia de Medicina de Catalunya
Königliche Akademie der Medizin Kataloniens
Carrer del Carme, 47
08001 Barcelona
Website: www.ramc.cat
Eintritt: 8 Euro
Führungen finden nur mittwochs um 10.30 Uhr, 11.30 Uhr und 12. 30 Uhr statt
Tickets gibt es online hier www.sternalia.com oder direkt vor Ort, kurz bevor die Führungen anfangen. Vorsichtshalber hatte ich mir mein Ticket online vorab gekauft, aber das wäre gar nicht notwendig gewesen. Da das Anatomische Theater selbst Einheimischen völlig unbekannt ist, gibt es hier keine Warteschlangen!
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