Wusstest Du, dass ungefähr alle zwei Wochen irgendwo auf der Welt eine Sprache ausstirbt? Mir kommen jedes Mal die Tränen, wenn ich höre, dass eine Sprache irgendwo auf der Welt nur noch von zehn oder zwanzig Menschen gesprochen wird. Praktisch ist sie dann schon so gut wie tot. Doch egal wie klein oder groß, wie bedeutend oder “unbedeutend” eine Sprache ist, mit jeder Sprache die stirbt, verlieren wir als Menschheit ein Stück Kultur. Eine bestimmte Sicht der Dinge, eine ganz besondere Art, die Welt um uns herum wahrzunehmen, ist dann für immer verloren.
Es ärgert mich, wenn jemand sagt, es sei doch viel einfacher, wenn wir alle Englisch sprechen würden. Ja, leichter schon. Aber dann wäre ein Konzert mit nur einem einzigen Instrument auch “einfacher”. Und erst die vielen Noten! Wenn wir nicht darauf achten, unsere Kultur bunt und farbig zu halten, dann wird sie eines Tages ziemlich grau aussehen.
Schon als ich den Atlas der verlorenen Sprachen zum ersten Mal durchgeblättert habe, hat mein Linguistinnenherz vor lauter Freude einen großen Luftsprung gemacht. Ein Buch, das sich „unwichtigen“ Sprachen widmet, die wir vermutlich bald verlieren werden oder schon verloren haben. Dieser Atlas ist wie eine kleine Liebeserklärung an die Sprachen der Welt und zeigt in jedem Kapitel ihre unverwechselbaren Einzigartigkeiten. Die Abschnitte sind auch noch mit so wunderschönen Illustrationen ergänzt, dass man das Gefühl hat, ein privates Tagebuch zu lesen. Sprachlich gesehen ist die Welt ein bunter Blumenstrauß.
Atlas der verlorenen Sprachen
Dieser Atlas erzählt wunderschöne kleine Geschichten über unbekannte Sprachen, die nur noch von wenigen Menschen gesprochen werden und heute leider vom Aussterben bedroht sind. Wir erfahren zum Beispiel wer Jim Knopf aus Michael Endes Geschichte über das schöne Lummerland wirklich war und dass es Sprachen gibt, die das gesprochene Wort mit Gebärden oder Trommeln ergänzen. Es gibt auch Sprachen, die nicht nur verschiedene Sorten an Muscheln unterscheiden, sondern eigene Worte für die Schalen der Muscheln haben und sie noch einmal anders nennen, je nachdem wie oder wo die Muschelschalen eingesetzt werden.
Die Irokesen wiederum hatten eine ganz eigene Speicherform ihrer Sprache. Sie hielten ihre Erinnerungen fest, indem sie bestimmte Muster in kleine Teppiche knüpften, statt sie in Wörtern auf Papier zu bringen.
Das Garifuna kennt einen Genderlect. D.h. diese Sprache unterscheidet lexikalisch ob eine Frau oder ein Mann spricht. Nein in Garifuna heißt inó wenn es ein Mann sagt, aber uá wenn es eine Frau sagt. Die Sprache de Navajos wurde schon im Zweiten Weltkrieg zur Kodierung von Nachrichten verwendet. Für uns ungewohnt ist die Eigenheit des Nuu-cha-Nul, Rehe und Menschen mit Augenleiden in derselben Kategorie zusammenzufassen, für die bestimmte grammatikalische Formen gelten. Eine andere Kategorie fasst Linkshänder und Bären zusammen.
Auf Feuerland sprach man einst Yámana. Doch heute hat Yámana nur noch eine einzige Sprecherin. Seit dem Tod ihrer Schwester hat die alte Dame aber jetzt schon niemanden mehr, mit dem sie sich in ihrer Muttersprache unterhalten kann.
In der Geschichte der Menschheit sind Sprachen entlegener Volksstämme oft als dumm oder minderwertig betrachtet worden. Missionare arbeiteten hart daran, anderen Kulturen nicht nur „christliche“ Sprachen, sondern auch das dazugehörige Weltbild aufzuzwingen.
Das Buch stellt viele interessanten Sprachen vor, erklärt die jeweiligen Besonderheiten und erzählt kleine Anekdoten, wie die, von einer Insel namens „Segelt-da-herum“. Mir gefallen diese Geschichten so gut, dass ich das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen kann.
Infos zum Thema:
Meinen Atlas der verlorenen Sprachen habe ich als Rezensionsexemplar erhalten. Ich bin dermassen begeistert von diesem Buch, dass ich es von Herzen gern vorstelle und unbezahlte Werbung dafür mache. Ein tolles Geschenk für alle Sprachenfreaks wie mich, oder zum selber lesen! Das Buch kriegst Du sicherlich in jeder guten Buchhandlung in Deiner Nähe (auch die Buchhandlungen wollen wir ja nicht verlieren).
Atlas der verlorenen Sprachen
Texte von Rita Mielke
Illustrationen von Hanna Zeckau
Verlag: Duden
ISBN: 978-3-411-70984-7
Seiten: 240
Erscheinungsjahr: 2020
Website: duden.de
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