Oh nein, wie das wackelt! Mir wird angst und bange. Vor lauter Aufregung halte ich mir die Hand vor den Mund. Im Notfall würde das natürlich gar nichts helfen, das weiß ich ja auch. Aber ich kann nicht anders. Allein das Zusehen, wie all die kleinen und großen Menschen die Castells bauen, ist total aufregend. Obwohl ein Castell ja eigentlich eine Burg ist, sind diese  Castells mehr so etwas wie Türme aus Menschen, so hoch wie ein Haus.

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Wie gebannt ist mein Blick von dem kleinen Mädchen gefesselt, das da in fünfzehn bis zwanzig Metern Höhe klettert. Im Gegensatz zu mir hat die Kleine aber scheinbar gar keine Angst. Sie ist hoch konzentriert. Erst nachdem sie kurz ihre Hand gehoben und der Menschenturm wieder abgebaut wird, lächelt sie stolz. Ganz kurz und flüchtig, dann ist wieder Konzentration angesagt. Jeder einzelne Schritt, jede Handbewegung muss genau sitzen. Zeit zum Freuen ist später, wenn alle wieder am Boden sind.

Warum machen die das bloß? Sind Castells nicht gefährlich? Und wie geht so etwas überhaupt? Diese Fragen kennen Laia, Silvia, Yvete und all die anderen aus der colla schon. Die colla das sind all diejenigen, die sich mehrmals in der Woche treffen, um Castells, Türme aus Menschen, zu bauen. Ich bin heute bei einer solchen colla in der Nähe von Girona zu Besuch, den Marrecs de Salt.

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Castells zu bauen ist eine katalanische Tradition. Besonders südlich von Barcelona sind Castells schon seit Jahrhunderten sehr verbreitet. Der Ursprung soll sogar aus der Gegend von Valencia stammen. Doch im Laufe der Zeit verbreiteten sich diese akrobatischen Türme immer mehr auch im Norden Kataloniens. Sogar im Ausland gibt es mittlerweile collas. Die große Beliebtheit der Menschentürme wird erst klar, wenn man versteht, dass es bei den Castells um mehr geht, als um Akrobatik. Wenn die Castellers zu klettern beginnen und sich immer höher aufeinander stellen, ist die richtige Technik natürlich ein wichtiger Aspekt. Fast genauso wichtig sind aber die Werte, die mit den Castells einhergehen.

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Beim Bauen dieser traditionellen Menschentürme geht es um gegenseitiges Vertrauen und Solidarität. Gemeinsam stark zu sein, im richtigen Moment Mut zu zeigen, ohne jemals leichtsinnig zu werden. Angesichts einer Gefahr Ruhe zu bewahren und vernünftig zu reagieren. Der Dichter und Komponist Anselm Clavé brachte die Philosophie der Castells in einem Vers auf den Punkt, der zum Motto der collas geworden ist: Força, Equilibri, Valor i Seny. Kraft, Ausgewogenheit, Mut und Vernunft.


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Geduldig erklären mir die Frauen diese komplizierte Kunst. Silvia zeigt mir anhand einer Tafel und der überdimensionalen Fotos an der Wand, wie die Castells aufgebaut werden. Unten um den Turm herum stützt eine große Menschentraube den Stamm in der Mitte. Diese Traube nennt man pinya. Sie ist unglaublich wichtig, denn sie trägt das Gewicht des Turms mit. Es sieht nur scheinbar willkürlich aus, wie sich alle um die starken Männer und Frauen in der Mitte versammeln. In Wahrheit ist jede einzelne Position genau festgelegt. Jeder hat seinen Platz. Auch die Hand- und Armhaltung ist von Bedeutung. Jede Kleinigkeit muss bedacht werden, damit es gelingt, die Castells erfolgreich auf und auch wieder abzubauen.

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Es gar nicht so leicht, auf Anhieb zu erkennen, was für eine Formation da gerade entsteht. Am Anfang, wenn sich die pinya unten aufbaut, erinnert das Ganze an Mathematik oder besser noch an Architektur. Jemand ruft laut Nummern in den Raum und die castellers begeben sich auf ihre Positionen. Alles ist ganz genau berechnet, wer wo zu stehen hat, und wie groß oder schwer jemand an einer bestimmten Stelle sein sollte, damit alles zusammenpasst und stabil ist.

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Mir fällt auf, dass einige Castellers die Zipfel ihrer Hemdkragen in den Mund nehmen. Ich frage Silvia danach. Offensichtlich versuchen die Männer und Frauen so zu vermeiden, dass Falten auf ihrer Schulter entstehen. Denn mit dem ganzen Gewicht kann schon eine kleine Falte, die beim Klettern entsteht, nach einer Weile sehr unangenehme Schmerzen verursachen. Das kann man sich ungefähr vorstellen wie eine Blase im Schuh beim Wandern. Nur eben schlimmer.

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Zur Festigung der Bauch- und Rückenmuskulatur und auch um das Klettern zu erleichtern, tragen alle Castellers eine faixa, eine Bauchbinde. Die muss beim Anlegen kräftig festgezogen werden, damit sie auch Halt gibt.

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Ich bin total begeistert. Immer wieder merke ich jedoch, dass ich einen Augenblick lang gar nicht richtig zugehört habe. Völlig fasziniert sehe ich zu, wie direkt vor mir meterhohe Castells entstehen. Immer wieder gibt es eine neue Formation. Mal besteht der Stamm aus drei, mal aus vier oder gar aus fünf Leuten. Dann gibt es Castells in sieben acht oder neun Etagen. Manche Collas bauen sogar noch höhere Castells.

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Die absolut schwierigste und höchste jemals gebaute Version ist ein 3 de 10 amb folre i manilles. Also ein Stamm von drei Leuten mit einer pinya zum Stützen des Stammes auch in der zweiten und dritten Etage und das bis auf eine Gesamthöhe von 10 Etagen. Die obersten Etagen bestehen immer aus zwei Personen, die bilden gemeinsam den pom. Diesen wichtigen Job, die Krönung der Castells, übernehmen die kleinsten Mitglieder der colla. Die Kinder sind oft schon ab vier Jahren dabei.

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Gerade bauen sie wieder einen neuen Turm. Wie hypnotisiert starre ich auf die Menschen vor mir. Ihr Blick ist ins Leere gerichtet. Sie verziehen keine Miene, egal wie viel Gewicht auf ihren Schultern lastet. Sie atmen gleichmäßig und konzentriert. Da! Hat der Turm gerade gewackelt? Habe ich da einen erschreckten Blick gesehen? Oh nein! Doch alles geht gut. Der kleinste Spross hat soeben die Hand gehoben. Das Zeichen, dass dieser Turm vollendet ist. Und schon saust er an den Beinen der Erwachsenen behutsam wieder nach unten. Das Castell wird abgebaut. Alles ist gut gegangen.

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Infos zu den Castells und der Colla Marrecs de Salt

Die Colla der Marrecs de Salt gibt es seit 1995. Sie trainieren jeden Dienstag und Freitag in der alten Textilfabrik Coma Cros in Salt bei Girona. Das heutige Kulturzentrum liegt ganz in der Nähe des Museu de l’Aigua, etwas versteckt hinter dem Parkplatz gleich neben einer noch funktionierenden Textilfabrik. Bei den Marrecs stehen die Türen immer offen. Sie freuen sich über Besuch! Du kannst also gern dort vorbeischauen und selbst mal zusehen.

Marrecs de Salt
Carrer de Sant Antoni, 1
Passatge Factoria Cultural Coma Cros
Naus guixeres, 8
17190 Salt, Girona
Website: www.marrecs.cat

Hier kann wirklich jeder in der Familie mitmachen. Alle werden gebraucht, egal ob alt oder jung, dick oder dünn, klein oder groß, drahtig oder muskulös. Jeder hat in einer Colla seinen Platz.

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… „fem pinya“ also eine pinya machen, ist auch eine Redensart und bedeutet so viel wie „Wir halten zusammen, gemeinsam schaffen wir das“.

noch schnell ein paar wichtige Vokabeln für die Castells:

  • colla – die Gruppe, der Verein der Castellers
  • pinya – die Menschentraube, die sich unten am Boden um den Stamm formiert, um die ganze Konstruktion zu stützen
  • tronc – der Stamm des Castells, bestehend aus drei, vier oder fünf Personen in der Mitte
  • folre – eine kleinere Menschentraube in der ersten Etage, die wie die pinya am Boden den Stamm stützt
  • manilles – noch kleinere Menschentraube in der zweiten Etage
  • pom – Gruppe der Kleinsten an der Spitze, tragen grundsätzlich einen Helm
  • enxaneta – die oberste Person, die kurz die Hand hebt
  • acotxador – die zweithöchste Person, meist die kleinste der colla, über dessen Rücken der enxaneta steigt
  • aleta – Aleta bedeutet eigentlich Flügel oder Flosse, bei den Castellers nennt man die kurze Handbewegung der enxaneta so, mit der angezeigt wird, dass das Castell vollendet aufgebaut ist