Mit verbundenen Augen sitze ich auf den Klippen und spitze die Ohren. Ich lausche den Wellen, wie sie gegen die Felsen brausen und konzentriere mich auf Edgars Stimme und auf meine Atmung. Die Wellen, die auf der linken Seite gegen die Felsen brausen, hören sich ganz anders an, als die Wellen, die von der rechten Seite in mein Ohr dringen. Die einen sind langsamer und ruhiger, die anderen schneller, irgendwie lauter. In der Ferne fährt ein Boot vorbei. Das Motorengeräusch nähert sich, dann verschwindet es langsam wieder. Edgar will mir mit dieser Mindfulness Übung zeigen, wie viel mehr ich höre, wenn ich nichts sehe.
Es ist schon erstaunlich. Allein durch das Tuch vor meinen Augen, scheinen meine Ohren viel aufmerksamer geworden zu sein. Schon in dem Augenblick, als Edgar mir die Augen verbindet, werde ich merkwürdigerweise viel ruhiger. Als ob durch das Wegfallen dieses wichtigen Sinnesorgans mein Körper runterschalten würde. Ich gerate keineswegs in Panik, wie ich es von mir fast eher erwartet hätte. Immerhin sitze ich direkt an den Klippen und habe gerade keine Kontrolle mehr über meine Bewegungen. Ich könnte mich zwar bewegen, aber ich sehe ja nicht wohin. Dennoch bin ich total ruhig. Still sitze und lausche ich einfach. Den Wellen, dem Wind, ja den hört man auch, Vogelstimmen, einen Bootsmotor, der irgendwann anhält, und sogar menschliche Stimmen höre ich von ganz weit weg, vermutlich von einem der Boote. Die Stimmen hallen zwar unverständlich aber hörbar zu mir hoch.
Plötzlich erklingt ein sehr angenehmer, melodischer Ton. Während ich mit verschlossenen Augen auf den Felsen sitze, bringt Edgar eine tibetanische Klangschale zum Vibrieren. Tiefe, warme Töne hüllen mich ein. Ich versuche, mich auf meine Atmung zu konzentrieren und mich zu entspannen. Schon das erfordert all meine Konzentration. Immer wieder zieht sich meine Stirn zu Falten zusammen, spannen sich irgendwelche Muskeln an und ich denke an Dinge, die ich heute Nachmittag noch erledigen muss. Doch immer wieder klingt Edgars Stimme von irgendwoher und sagt, ich solle meine Gedanken einfach ziehen lassen. Loslassen. Das ist gar nicht so leicht.
Es ist eine sehr spannende Erfahrung, mit allen Sinnen, nicht nur mit den Augen aufmerksam zu sein. Zu dieser kleinen Übung die wir heute gemacht haben gehört nämlich auch ein Spaziergang in der Natur. Ganz langsam gehen wir ein Stück auf dem Camí de ronda, genießen die salzige Meeresbrise, riechen an den Kräutern die am Wegesrand wachsen und lauschen den Wellen, wenn sie schäumend an die Felsen krachen. Dieses bewusste Wahrnehmen der Umgebung, hier in der Natur wirkt sehr beruhigend auf mich.
Edgar meint, dass neue Erfahrungen gut für unsere seelische und körperliche Gesundheit seien. In unserem Alltag sind wir viel zu oft Wiederholungen ausgesetzt. Unsere Gedanken und Gefühle sind ständig dieselben und dadurch stumpfen wir auch ein wenig ab. Neue Erfahrungen hingegen verbinden die beiden Gehirnhälften miteinander, wecken uns auf, machen uns aktiver, konzentrierter. Bei mir scheint das auf jeden Fall zu funktionieren.
Nach unserem Spaziergang unterhalten wir uns noch und Edgar erzählt mir, wie er überhaupt zu diesem Mindful Training gekommen ist.
Es ist faszinierend, was uns unser Körper alles mitteilen kann, wenn wir nur zuhören. Ich bin nicht spirituell oder esoterisch interessiert, aber ich glaube, dass wir Menschen uns ziemlich weit von der Natur entfernt haben, deren Teil wir ja eigentlich immer noch sind. Mit Multitasking hetzen wir durch unser Leben, machen eben schnell dies und erledigen eben schnell das, bis wir am Ende völlig erschöpft und unglücklich sind. Im schlimmsten Fall werden wir sogar krank.
Das Problem ist, dass wir einfach zu viel wollen. Sicherheit, Wohlstand, Spaß, Schönheit, Ruhm, immer neue Bedürfnisse befriedigen. So kommen wir gar nicht mehr dazu, uns auf das zu konzentrieren, was wirklich wichtig ist im Leben, nämlich das Leben selbst. Dass unser Körper funktioniert und uns ganz viele Informationen schenkt, nehmen wir oft gar nicht mehr wahr. Wir sehen nur noch mit den Augen, hören, schmecken, riechen und fühlen kaum noch. Viel zu oft werden wir erst wach, wenn ein schlimmes Ereignis eintritt und uns wachrüttelt. Bis das nicht passiert, machen wir weiter wie immer. Business as usual, bis irgendwann nichts mehr geht.
Mindfulness ist Achtsamkeit
Edgar gab vor vielen Jahren seinen sicheren Job und sein bequemes Leben auf. Er entschied sich dafür, bewusster zu leben, anderen von seinen Erfahrungen zu berichten und ihnen dabei zu helfen, eigene, neue Erfahrungen zu machen. Für ihn ist Mindfulness alles andere als eine Modeerscheinung. Es ist ein Bedürfnis mitten in unserer Gesellschaft, das wächst und größer wird. Immer mehr Menschen stellen fest, dass es nicht so weitergehen kann wie bisher. Sie suchen Lösungen und wollen eine Veränderung.
Edgar wollte herausfinden, warum Musik in der Lage war, Gefühle in ihm auszulösen. Wieso konnten bestimmte Lieder Emotionen in ihm hervorrufen? Auf seinem Weg in die Welt der Töne, fragte er sich auch, warum die Stille beruhigend auf uns wirkt. Auch jetzt hier unter den Bäumen, mitten in der Natur, höre ich den Wind, die Wellen und auch ein paar Vögelchen. Äste knicken. Eigentlich ist es gar nicht still! Über diese leisen Töne der Stille hinaus gibt es sogar noch messbare Töne und Vibrationen, die unsere Ohren nicht mehr wahrnehmen können, die aber dennoch da sind.
Die Japaner haben mit dem Waldbaden schon vor längerer Zeit herausgefunden, dass Bäume einen wohltuenden Einfluss auf uns Menschen ausüben. Es ist wirklich erwiesen, dass die Essenzen und Öle, die die Bäume verströmen, eine heilsame Wirkung auf uns haben. Bei einem Spaziergang im Wald atmen wir viele winzig kleine Teile ein. Aber die Bäume verströmen nicht nur ihre Harze und Essenzen, sondern sie schwingen auch in bestimmten Frequenzen. Die sind morgens zum Beispiel anders als abends. So stieß Edgar bei seiner Suche auf viele Musiker, Bioakustiker und Wissenschaftler, die sich mit den Tönen der Natur beschäftigen, sie aufnehmen und messen. Es gibt so viele spannende Dinge um uns herum, über die wir kaum etwas wissen, weil wir sie gar nicht wahrnehmen.
Nur weil wir Geräusche nicht hören, heißt das ja nicht, dass es sie nicht gibt. Fast alle Tiere hören besser als wir und reagieren entsprechend auf diverse Signale der Natur. Viele Leistungssportler hätten das Potenzial erkannt, das in Meditationen liegen kann, erzählt Edgar. Sportler, die vor den Wettkämpfen meditieren oder ähnliche Achtsamkeitsübungen machen, sollen wesentlich ruhiger und überlegter agieren. Mindfulness verbessere sozusagen die mentale Stärke und trage damit auch zu besseren Ergebnissen bei.
Für Edgar geht es bei Mindfulness um Achtsamkeit und um Harmonie. Darum, dass wir uns selbst wieder in Einklang bringen mit der Natur. Wenn man sich mit jemandem besonders gut versteht, sagt man auf Deutsch doch auch „mit jemandem auf derselben Wellenlinie liegen“. Genau darum geht es hier im Grunde genommen auch.
Warum Mindfulness Meditiation im Urlaub?
Doch warum machen Menschen Mindfulness Übungen im Urlaub? Schon als ich Edgar das frage, wird mir die Antwort selbst klar. Gerade wenn man nicht im Alltagsstress steckt und Zeit hat, ist ja ein perfekter Moment, um sich auf so eine neue Erfahrung einzulassen. Im Arbeitsalltag kommt man ganz einfach nicht dazu. Doch im Urlaub ist man offener für das Unbekannte. Oft sucht man ja gerade nach neuen Möglichkeiten der Entspannung. Wer nicht gerade seinen Urlaub in einer Großstadt verbringt, befindet sich vermutlich zum Erholen sowieso schon in der Natur, am Strand oder in den Bergen.
Sobald die Menschen dann erste Erfahrungen mit Achtsamkeit gesammelt haben, ist es für sie viel leichter, diese Übungen in ihren Alltag zu integrieren. Man muss ja gar nicht Kerzen anzünden und mit gekreuzten Beinen meditieren. Schon bei einem ganz normalen Spaziergang, beim Gemüseschnippeln in der Küche, beim Staubsaugen oder morgens auf dem Weg zur Arbeit kannst Du „mindful“, also schlicht und einfach aufmerksam, sein. Wie fühlt sich etwas an, wie riecht es, wie hört es sich an? Es geht darum, wieder alle Sinne zu benutzen, sich Zeit zu nehmen. Denn Zeit ist wertvoll, sagt Edgar.
Unter all dem Plastikmüll begraben und mit der Aufmerksamkeitsspanne eines Dreijährigen rennen wir viel zu oft rastlos durch diese Welt. Statt einfach einmal stehen zu bleiben und gar nichts zu tun.
Infos Mindfulness an der Costa Brava
Edgar habe ich in Roses getroffen und bin mit ihm an der Punta Falconera unterwegs gewesen. Seine Mindful Aktivitäten finden aber auch anderswo statt. Die Punta Falconera ist übrigens eine der ruhigen, schönen Ecken von Roses. Der Camí de Ronda führt hier durch die einzelnen Buchten quer über das Cap de Creus bis nach Cadaqués oder Port de la Selva.
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