Vom Friedhof blicke ich hinab aufs Meer. Das kleine Dorf Arenys de Mar erstreckt sich mit seinen bunten Dächern zu meinen Füßen. Wie in vielen anderen Orten musste auch hier der Friedhof im neunzehnten Jahrhundert verlegt werden. Im Dorf selbst war es längst viel zu eng geworden und der alte Friedhof neben der Kirche entsprach nicht mehr den neuen, hygienischen Anforderungen. Und so ruhen nun Generationen von Menschen, die hier gelebt und geliebt haben, auf dem kleinen Hügel mit Blick auf das Meer. Ein schöner, friedlicher Platz, an dem man Ruhe und die Vergänglichkeit der Zeit spüren kann.
Zwischen den langen Wänden, in denen sich fein säuberlich die Grabfächer aneinanderreihen, erheben sich Zypressen, kleine Paläste und stille, weiße Skulpturen. Nachdenklich schön wirken manche der Engel und traurig einige der Frauengestalten.
Eine Strophe aus Salvador Esprius Gedicht „Cementiri de Sinera“ beginnt mit den folgenden Zeilen (*):
Ploura. L’àvia Muntala
desa el sol a l’armari,
del maltemps, entre puntes
de mantellina fetes
per ditets de Sinera.
(* Übersetzung von mir): Es wird regnen; Großmutter Muntala räumt die Sonne in den Schrank des schlechten Wetters, zwischen Spitzendeckchen, die die Fingerchen Sineras geklöppelt haben.
Fast versteckt befindet sich in einer Ecke ein unscheinbares Grab. Es ist eine schlichte weiße Marmorplatte. Hier ruht der Dichter Espriu Salvador, der viele Jahre seiner Kindheit in Arenys de Mar verbrachte. Um der Zensur zu entgehen, verwandelte der 1913 geborene Schriftsteller den kleinen Ort am Meer in seinen Werken in eine mystische Welt. Aus einer Mischung von Kindheitserinnerungen, Erzählungen der Alten und fiktiven Charakteren, schuf er Sinera das Dorf, in dem seine Geschichten spielen. Hier wirft er einen Blick in die Tiefe der Seelen, ergründet feinsinnig die Psychologie seiner Mitmenschen und entwickelt eine ganz eigene Haltung zum Tod.
Von den Katalanen wird Espriu oft auch el poeta de la mort, der Dichter des Todes, genannt. Nachdem zwei seiner Geschwister noch sehr jung starben, entwickelte Salvador Espriu eine ganz eigene Position zum Tod. Der Umgang mit dem Ende des Lebens spielt eine wichtige Rolle in der Welt des Schriftstellers.
Wie viele Intellektuelle seiner Generation konnte er nicht frei schreiben. Während manche seiner Kollegen in ein äußeres Exil gingen, wählte Espriu das innere Exil. Er blieb in Katalonien, war sich aber stets der Tatsache bewusst, dass er nicht sagen und schreiben durfte, was er und die Menschen um ihn herum wirklich dachten. Sein Leben und seine Philosophie mussten sich also “Innen“ abspielen.
Vom Friedhof führt ein kleiner Weg hinab ins Dorf. Das Meer stets im Blick, von Bäumen gesäumt, schlängelt sich der Weg bergab. Sobald ich die ersten Häuser erreiche, entdecke ich ein Wandbild mit einem Gedicht Salvador Esprius. In einfachen aber sehr bildhaften Worten geht es darum, dass ein kleiner Junge hinter dem Lumpensammler Quella herläuft. Der alte Mann erklimmt mit seinem Karren den steilen, alten Weg zum Friedhof, wo das Meer einem zu Füßen liegt.
In den engen kleinen Gassen, durch die ich nun laufe, saßen bis vor fünfzig Jahren noch die Mädchen und Frauen vor den Häusern. Arenys de Mar war damals noch einer der bekanntesten Orte für feinste, handgearbeitete Spitzen. Mit einem dicken Klöppelkissen und Hunderten kleiner Stöckchen verarbeiteten die Mädchen und Frauen feine Seiden- oder Baumwollfäden zu Decken, Kragen oder Blusen, solange es das Sonnenlicht zuließ. Mit der Erfindung der Maschinen geriet dieses Handwerk aber bald mehr und mehr in Vergessenheit. Nur die Zeilen des Dichters erinnern heute noch an das fröhliche Klappern der flinken Fingerchen.
Der kleine Ort Arenys de Mar entstand wie viele andere Küstendörfer erst um das fünfzehnte Jahrhundert herum. Nur langsam zogen die Menschen aus dem höher gelegenen Ort Arenys de Munt hinunter ans Meer. Wegen der drohenden Gefahr von Piratenangriffen und Überfällen hatten sie lange gezögert, sich hier niederzulassen. Erst als im neunzehnten Jahrhundert die Küsten sicherer wurden, begannen die Einwohner die Nähe zum Meer zu nutzen. Die Einwohner aus Arenys de Mar lebten also nicht nur vom Weinanbau, sondern auch vom Fischfang, vom Schiffsbau und vom Handel mit Übersee. Schnell wuchs der kleine Ort immer weiter und bald schon ersetzte man die kleine Kapelle durch eine neue, große Kirche.
Der alte Küster ist so nett für uns die Kirche aufzuschließen. Ein riesiges barockes Altarbild dominiert die Wand der Apsis. Bis unter die gewölbte Balkendecke reichen die über und über mit Gold verzierten Bilder und Figuren der Engel und Heiligen.
Angeblich soll es nur drei bis vier Jahre gedauert haben, bis die Werkstatt des Pau Costa, einem der bekanntesten Bildhauer Kataloniens, dieses enorme Altarbild mit all seinen Details vollendet hatte. Über Maria, die den Ehrenplatz in der Mitte des Altarbildes einnimmt, ist ein römischer Soldat zu sehen. Es ist der Heilige Zénon, einer der ersten Christen und Märtyrer unter Diokletian, der Schutzpatron von Arenys de Mar, zu dessen Eheren jedes Jahr im Sommer das Stadtfest gefeiert wird.
Ein legendenumwobener Platz befindet sich im Hafen von Arenys de Mar. Dort, wo heute schicke Jachten vor Anker liegen, wurden einst hölzerne Schiffe gebaut und Fische gefangen. Nichts hat der heutige Hafen noch mit dem Hafen von vor hundert Jahren gemein, in dem die Boote einfach in den Sand gezogen und die Netze zum Trocknen ausgebreitet wurden.
Auf einem der Felsen, vom tosenden Meer umbrandet, stand hier einst eine kleine Kapelle, die Eremita del Sant Crist del Calvari. Es waren vor allem Fischer, Schiffsbauer und gitanos, die dort einkehrten und dort ihre Gebete gen Himmel schickten. Jahrhundertelang hatte das kleine Gotteshaus den Überfällen und der Macht der Wellen standgehalten. Doch Ende des zwanzigsten Jahrhunderts verkaufte ein Fischer den Felsen samt der Kapelle an einen Investor, der an ebendieser Stelle ein Luxushotel errichtete, das Hostal del Mont Calvari.
Zunächst blieb die Kapelle zwar noch erhalten, doch im Laufe der Zeit verschwand der kleine Tempel immer mehr und wurde schließlich komplett vom Hotelkomplex geschluckt. Für die Reichen und Prominenten entwickelte sich das mondäne Hotel Anfang des letzten Jahrhunderts jedoch bald zu einem angesagten Treffpunkt. Wahre Dramen der Liebe und Leidenschaft sollen sich hier abgespielt und so manchen Dichter inspiriert haben.
Infos zu Arenys de Mar
Der kleine Ort Arenys de Mar liegt ca 40 km vor Barcelona. Mit dem Auto fährt man über die C-32 an der Küste entlang dorthin. Von Sants oder der Plaça Catalunya in Barcelona fahren die Züge der RENFE (R1) direkt bis an den Strand von Arenys de Mar.
Salvador Espriu:
Der Heimatdichter verwandelt sein Dorf mittels Anagramm in eine mythische Welt: Rückwärts gelesen wird aus Arenys – Sinera (Das y kommt im Katalanischen nur in der Kombination ny vor, um den palatalen Nasallaut zu bilden – ñ auf Spanisch).
Guter Artikel über Espriu in Die Zeit – „Der Schrei des Träumers“
Friedhof:
Die beiden schönsten Figuren auf dem Friedhof sind Werke des Bildhauers Josep Llimona, von dem auch die Reiterstatue Ramon Berenguers vor der alten Stadtmauer Barcelonas, Deconsol im MNAC, und einige Skulpturen auf dem Friedhof des Montjuïc stammen. Statt der üblichen Engel sind seine Frauenfiguren weicher und empfindsamer.
Cementiri Municipal
Camí de la Pietat,
08350 Arenys de Mar
Museu Marès de la Punta:
In Arenys gibt es sogar ein Klöppelmuseum. Bis in die fünfziger Jahre war Arenys de Mar eine Art Zentrum für feinste Spitzen. Egal ob Taschentücher, Schals, Kragen oder Blusen, geschickt verarbeiteten schon die kleinen Mädchen die Fäden zu eleganten Mustern aus Blumen, Tiere und edlen Wappen. Da die Fäden so fein und die Muster so detailliert waren, brauchte man für diese Arbeit gute Augen und viel Tageslicht. Mit der Zeit kamen die Spitzenkragen aus der Mode. Heute werden solche Produkte mit Maschinen hergestellt. Das Museum zeigt, welche Bedeutung diese Handarbeit für die Menschen hier hatte.
Carrer de l’Església 43
08350 Arenys de Mar
Website: museu.arenysdemar.cat
Kirche:
Església de Santa Maria
Plaça de l’Església
08350 Arenys de Mar
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