Artiga de Lin ist einer der schönsten Plätze im Val d’Aran. Das Arantal liegt im äußersten Nordwesten Kataloniens und ist ganz anders, als die Täler der Umgebung. Denn das Val d’Aran gehört zwar zum katalanischen Teil der Pyrenäen, doch es öffnet sich geologisch gesehen nach Norden, in Richtung Frankreich. Zur spanischen Seite ist es von hohen Gipfeln und Bergkämmen abgetrennt. Das hat viele Jahrhunderte lang natürlich bewirkt, dass die Menschen in den Dörfern des Val d’Aran ihre Tiere, ihr Gemüse oder ihren Käse eher auf den Märkten der leichter zu erreichenden Dörfer der Gascogne verkauften, als diesseits der Grenze. Eine weitere Folge dieser geologischen Besonderheit ist, die Sprache, denn Aranesisch ist eine aus dem Mittelalter stammende Sprache, die als lokale Variante des Okzitanischen entwickelte und nur in der Gegend des Arantals gesprochen wird. In Katalonien ist Aranés neben Spanisch und Katalanisch als offizielle Sprache anerkannt.

bagergue vall d'aran (Baguergue Val d’Aran)

Eigentlich war unser Ziel heute der Estany Gerber, den man auf einer nicht allzu komplizierten Wanderung vom Port de la Bonaigua aus erreichen kann. Nachdem wir freudig staunend den Gebirgspass überquert und die Landschaft bewundert haben, parken wir das Auto am Parkplatz La Peülla. Ich stiefele gleich los und stampfe über die hübsche Wiese in Richtung See. Doch weit kommen wir nicht. Ein älteres Ehepaar, das wir gerade noch losgehen sehen haben, kommt uns schon nach wenigen hundert Metern wieder entgegen.

Hinter der nächsten Biegung liegt noch Schnee, und das nicht zu knapp. Auf 2000 Meter Höhe hat die Sonne auch jetzt im Mai in den Senken und schattigen Ecken des Gebirges noch nicht alle Reste des Winter geschmolzen. Darauf war ich nicht vorbereitet. Nasse Füße zu kriegen ist eine Sache, aber in Eis und Schnee zu wandern, ist mir dann doch zu gefährlich. Wir planen um. (Von der geplanten Wanderung zu diesem See im Naut Aran werde ich hoffentlich ein anderes Mal berichten können.)

wegweiser artiga-lin- uelhs deth joeu-wasserfall

Kurzentschlossen fahren wir in Richtung Vielha. Wenige Kilometer hinter dem größten Ort und kulturellen Zentrum des Val d’Aran liegt Es Bordès. Von dort fahren wir auf einem schmalen Weg bis zur Ermita dera Mair de Diu dera Artiga de Lin, einer kleinen Kirche, von der aus man zu einem wunderschönen Tal,  dem Artiga de Lin, und einem ganz besonderen Wasserfall, dem Uelhs deth Joèu, wandern kann. Im Mai kann man mit dem PKW sogar zu einem höher gelegenen Parkplatz hinauf fahren, um von dort aus zu wandern. Wenn es im Sommer zu voll wird, weil viel zu viele Menschen hier unterwegs sein wollen, verkehrt ein tren turístic, eine kleine Bimmelbahn zwischen Parkplatz und Wasserfall.

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artiga lin

Längs des Weges zum Wasserfall finden sich immer wieder Quellen, wie die Hònt deth Gresilhon, in denen das Wasser kraftvoll aus der Erde sprudelt. Hònt ist Aranesisch für Wasser und gresilhon ist der aranesische Name der Wasserkresse, denn die wächst hier reichlich. In der Ferne hört man beständig das Rauschen des großen Wasserfalls, der sich seinen Weg ins Tal sucht. Ab und zu weist ein Hinweisschild nach links, den direkten Weg zum Uelhs deth Joeu. Doch ich will ganz hinauf auf die Ebene des Artiga de Lin und von dort zum Wasserfall hinunterwandern. Was genau Uelhs deth Joeu eigentlich heißt, weiß ich immer noch nicht genau. Die einen sagen, der Name bedeute “Augen des Jupiters” andere meinen, es heiße “Augen des Teufels”. In jedem Fall finde ich diese einzigartige Sprache sehr spannend. Sie klingt nicht nur toll, sondern die Namen und Ortsbezeichnungen lesen sich alle wie aus einem Fantasybuch.

artiga-lin-wanderung

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Schließlich erreiche ich die Hochebene und eine kleine Berghütte kommt in Sicht. Einsam und scheinbar winzig liegt sie auf einer Wiese. Hinter ihr ragen der Malh des Pois – Forcanada (2.881 m) und der Malh dera Artiga (2.711 m) in den wolkenlosen, blauen Himmel. Zwei junge Familien haben es sich auf den Bänken vor der Schutzhütte bequem gemacht. Die Kinder spielen in der Frühlingssonne, während etwas weiter an einem Grillplatz schon zu Mittag gegessen wird. Der Anblick der Berge ist umwerfend. Hinter der nächsten Kurve, nur ein paar hundert Meter weiter, bin ich wirklich sprachlos. Denn als ich an einer kleinen Cabaña vorbeikomme, öffnet sich plötzlich eine riesige, weite Bergwiese. Das ist also Artiga de Lin. Wie gemalt zieren schneebedeckte Gipfel den Hintergrund dieses Bilderbuchmotivs. Beinah dreitausend Meter hoch zeigen sich die Berge hier in ihrer ganzen Pracht, zum Greifen nah und doch so unendlich weit weg. Auf der anderen Seite des Massivs liegt das Valle Benasque in dem sich das Forau d’Aigualluts befindet. (Auch eine Wanderung, die ich eigentlich machen wollte, aber wegen der Schneegrenze erst einmal verschieben musste.)

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Unterirdisch sind das Forau d’Aigualluts und diese Wiese vor mir, bzw der Wasserfall, in dem das Wasser, das sich hier oben sammelt, zu Tal stürzt, miteinander verbunden. Ein spannendes Phänomen der Pyrenäen! Das Schmelzwasser der Gletscher des Aneto und des Maldeta verschwindet nämlich in dem Wasserfall jenseits dieser Gipfel. Es versickert einfach in der Erde und ist weg. Denkt man. Doch mit einem Experiment konnte man 1936 dem verschwundenen Wasser auf die Spur kommen. Wissenschaftler kippten im Forau d’Aigualluts ein fluoreszierendes Mittel in das Gewässer, eher es versickerte und siehe da, es kam auf dieser Seite wieder zum Vorschein. Leuchtend plätscherte das gefärbte Wasser im Uelhs deth Joeu gen Tal. Damit hatte man bewiesen, dass es eine rund vier Kilometer lange, unterirdische Verbindung zwischen dem Forau d’Aigualluts und dem Uelhs deth Joeu geben muss. Eine weitere Besonderheit ist übrigens, dass das Wasser von hier aus nicht zum Mittelmeer fließt, sondern in den Atlantik mündet, denn es speist die hier entspringende Garonne, und die fließt nun mal in den Atlantischen Ozean.

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Ich bin wirklich schwer beeindruckt und versuche die Schönheit dieses Anblicks in mir aufzusaugen. Fotos können nur annähernd eine Ahnung davon vermitteln, wie frei es sich hier atmen lässt. So langsam wie möglich spaziere ich auf dem Pfad, der im Halbkreis über diese malerische Wiese führt. Eine Welt aus Grün und Blau mit einer kleinen Brücke in der Mitte. Eine friedliche Welt, beinah wie der Himmel auf Erden. Am Ufer des kleinen Rinnsals sitzt ein verliebt wirkendes Pärchen am vorbei plätschernden Wasser. Ein kleiner Mensch wagt sich nur mit Badehose bekleidet sogar bis zu den Knöcheln in das eiskalte Nass.

Tief ist der Riu Joèu hier oben nicht. Erst in seinem Verlauf werden die vielen kleinen Zuflüsse ihn immer weiter anwachsen lassen. Das Wasser scheint sich in der ganzen Ebene auszubreiten und in einem natürlichen Kanal, den es inmitten der Wiese gegraben hat, zu sammeln. Damit man keine nassen Füße kriegt, führt der Weg über eine kleine Brücke. Auf der anderen Seite der Wiese schlägt der Pfad einen Bogen und man gelangt zu einer steinernen Pforte. Durch dieses an frühgeschichtliche Dolmen erinnernde Portal hindurch geht es bergab in Richtung Wasserfall.

Von nun an geht es auf einem Trampelpfad durch den Wald, der Weg führt bergab bis zu einem weiteren Portal aus Stein. Dahinter geht es auf einer Treppe zu dem inzwischen laut tosenden Uelhs deth Joèu. Ungebändigt und mit wilder Kraft rauscht das Wasser hier ins Tal. Über eine kleine Brücke geht es auf die andere Seite, wo sich der offizielle Aussichtspunkt, der Mirador del Uelhs deth Joèu, befindet, von dem aus es nur noch ein paar hundert Meter bis zu einem Parkplatz (im Sommer fährt der Tren turístic bis zu diesem Parkplatz nahe des Wasserfalls).

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artiga-lin- uelhs deth joeu-wasserfall okzitanisches Kreuz

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Der Rückweg führt auf angenehm weichem Waldboden im Schatten der Bäume durch den Wald zurück, bis kurz vor die Ermita dera Mair de Diu dera Artiga de Lin, an der ich gestartet bin. Der laut tosenden Riu Joèu, den ich vorhin am Wasserfall überquert habe, ist weiter unten deutlich ruhiger und schlängelt sich streckenweise direkt neben meinem Weg durch den Wald. Die letzten paar hundert Meter muss ich auf der asphaltierte Straßen zurücklegen, dann bin ich wieder an der Kapelle angelangt, wo der Schatz schon auf mich wartet.

Informationen Artiga de Lin

Website: www.visitvaldaran.com  und  PDF zum downloaden

Praktische Informationen findest Du auch hier: www.rutaspirineos.org Die dort beschriebene Route ist eine Kurzversion der kleinen Wanderung, die ich gemacht habe. Es geht aber auch wesentlich anspruchsvoller, falls Du ein Gipfelstürmer bist, findest Du auf der Website viele gute Tipps.

Der Rundweg, den ich gelaufen bin, ist ungefähr acht Kilometer lang und nicht kompliziert. Ich habe ca 2,5 Stunden gebraucht.

Übernachtet haben wir in el Pont de Suert, ein niedliches und günstig gelegenes Dorf, in dem man auch in der Nebensaison geöffnete Hotels, Restaurants, Supermärkte etc findet, denn gerade im Frühjahr ist in dieser Ecke der Pyrenäen Vieles geschlossen. Die Zeit zwischen der Winter-Hauptsaison und der Sommersaison nutzen viele kleine Betriebe, um eine kurze Ruhepause einzulegen oder um anfallende Reparaturarbeiten zu erledigen.

Hotel Apartament La Faiada
Camí de Ventolà, 1
25520 El Pont de Suert, Lleida
Website lafaiada.com

Das kleine Hotel hat praktische Apartments mit Küche und eine Garage. Neus, die Besitzerin ist mega nett und wohnt selbst dort, sodass sie jederzeit mit Rat und Tat zur Seite steht, wenn man Fragen zu den Ausflügen in die Nähe hat. (Ausflüge, die wir von hier aus unternommen haben: Vall de Boí, Naut Aran, Artiga Lin, Valle Benasque.)

 

Und noch ein paar Fotos: Era Artiga de Lin und Uelhs deth Joèu:

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