Ganz plötzlich steigt der Nebel auf und A Guarda verschwindet unter uns. Hier oben auf dem Monte Tecla sind wir wie in einen Wattebausch gehüllt, isoliert von der Welt da unten. Unglaublich schnell, innerhalb weniger Minuten, hat uns diese dicke weiße Luftschicht eingeholt, die kurz vorher noch über dem Meer zu schweben schien.
A Guarda ist die erste Station meiner kleinen Wanderung durch Galicien, denn von hier aus starte ich meinen portugiesischen Jakobsweg nach Santiago de Compostela. Doch bevor es losgeht, will ich mir diesen niedlichen kleinen Ort an der Grenze zu Portugal noch ein wenig ansehen. Im Hafen reihen sich bunte Häuser dicht an dicht aneinander. Fischerboote dümpeln still auf dem Wasser. Mich erinnert der Ort sofort an die Nordküste Irlands, „typisch spanisch“ sieht es hier wirklich nicht aus. Die Landschaft ist grün, die Felsen rau und dazu dieser Nebel …
Ich staune nicht schlecht, als Manuel, mein Guide, mich zu einer alten Siedlung auf dem Monte Santa Tecla (oder Monte Santa Tegra auf Galicisch) führt. Angeblich keltischen Ursprungs sollen die Überreste der steinernen Hütten sein. Das hat man jedenfalls lange Zeit angenommen. Manuel erklärt mir jedoch, dass jüngste Forschungen davon ausgehen, das Castro sei von einer hier ansässigen Bevölkerung gebaut worden. Die lebten zwar recht ähnlich wie die Kelten, stammten aber nicht von ihnen ab.
Wer auch immer diese Menschen waren, fest steht, dass sie hier an strategisch günstiger Stelle eine mega Metropole errichtet haben. Es scheinen unendlich viele Hütten zu sein. So um die 5.000 Menschen müssen hier vor rund zweitausend Jahren gelebt haben. Klein war diese Siedlung also definitiv nicht.
Die Straße auf den Berg, bei deren Bau man die archäologische Stätte überhaupt erst entdeckt hat, führt praktisch mitten durch die jahrtausendealte Stadt hindurch. Denn erst zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts stieß man durch Zufall auf die Überreste des Castros. 1913 wollte ein Verein wohlhabender Industrieller eine Straße zu der kleinen Kirche Santa Tecla oben auf dem Berg bauen lassen. Die gutsituierten Bürger waren vorwiegend Indianos, also reiche Rückkehrer, die in die Kolonien ausgewandert waren und es dort zu Wohlstand gebracht hatten. Schon ein Jahr nach dieser aufregenden Entdeckung begannen die Ausgrabungsarbeiten der Archäologen. Die Straße baute man allerdings trotzdem.
Die meisten der Hütten sind rund oder oval. Drei bis vier dieser kleinen Häuser gruppieren sich jeweils um eine Art Innenhof und bildeten so vermutlich einen Haushalt. In einer Hütte schliefen und kochten die Menschen, die anderen dienten als Lager für Getreide oder landwirtschaftliche Produkte oder als Unterschlupf für das Vieh. Manuel zeigt mir an den Grundmauern, wie man die unterschiedlichen Hütten erkennen kann. Die Wohnhütten hatten nämlich eine Art vorgelagerten Eingangsbereich mit einem Ofen an der Seite.
Dank Manuels ausführlicher Schilderung entsteht sofort ein Bild in meinem Kopf und ich stelle mir vor, wie die Menschen hier zur Zeit um Christi Geburt gelebt haben. Eine Gruppe fröhlicher Kinder spielt fangen in den engen Gassen, eine Frau mahlt Mehl mit einer schweren Steinmühle. Ein lebendiges Dorf mit vielen Menschen, die durch die Stadttore ein und ausgingen, um draußen auf dem Feld zu arbeiten.
Während auf einer Seite die Wellen des Atlantik hier ans raue Ufer treffen, führt in unserem Rücken der Fluss Miña (oder Minha auf Galicisch) süßes Wasser vom Inland hierher an die Küste. Die Lage hier oben am Berg war wirklich gut gewählt.
Auf der anderen Seite des Flusses liegt Portugal. Ein kleiner Strand ragt wie ein Dreieck in den Fluss hinein. Von dort kommen die Pilger mit der Fähre herüber, erklärt Manuel, wenn sie auf dem portugiesischen Jakobsweg hier entlang bis nach Santiago laufen. Von dem Aussichtspunkt ganz oben auf dem Hügel kann ich sogar eine kleine Insel im Fluss entdecken. Die gehört auch schon zu Portugal.
Trotz der spannenden archäologischen Funde bauten die Leute zu Anfang des letzten Jahrhunderts ein paar Restaurants und Ausflugslokale auf den Berg. Der Tourismus damals bestand eben vorwiegend in Sonntagsausflüglern, die die Kirche Santa Tecla und das neu entdeckte Castro besuchen wollten, das sich schnell zu einer beliebten Sehenswürdigkeit entwickelte. In einem dieser ehemaligen Restaurants ist heute ein kleines Museum untergebracht. Dort werden ein paar der Fundstücke aus dem Castro gezeigt, wie zum Beispiel eine Kette mit einem reich verzierten Verschluss, die allerdings nicht von Frauen, sondern wahrscheinlich von den Männern getragen wurde.
Der Museumswächter freut sich über unseren Besuch und berichtet von den traditionellen Feiern, die es in der Gegend gibt. Neben der Fiesta del Monte, zu der jedes Jahr die Einwohner von A Guarda auf ihren Berg pilgern, um hier oben zu feiern, erzählt er mir die Geschichte der Fiesta del Olvido, der Feier des Vergessens.
In einem nahe gelegenen Dorf sollen nämlich die Einwohner dank einer schlauen List die Römer zumindest eine Weile auf ihrem Vormarsch gehindert haben. Sie erzählten ihnen mysteriöse Legenden, nach denen jeder, der den Fluss überschreite, sein Gedächtnis verlieren würde. Die abergläubischen Soldaten waren so verunsichert, dass sie dem Befehl ihres Kommandanten nicht mehr folge leisteten. Sie weigerten sich einfach den Fluss zu überschreiten. Schließlich musste der Kommandant als Erster ans andere Ufer reiten. Und um zu beweisen, dass er sein Gedächtnis nicht verloren habe, musste er seine Soldaten einzeln beim Namen rufen.
Dann stehen wir vor der kleinen Kapelle, die dem Berg ihren Namen gegeben hat, der Capilla de Santa Tecla oder Santa Tegra. Schon im zwölften Jahrhundert wurde das kleine Gotteshaus zu Ehren der aus der Gegend der heutigen Türkei stammenden Märtyrerin errichtet. Im siebzehnten Jahrhundert erweiterte man den kleinen Bau zu seiner heutigen Größe. Drinnen steht natürlich Santa Tecla und empfängt die Gläubigen. Die Märtyrerin soll eine engagierte und selbstbewusste Frau gewesen sein, die gemeinsam mit dem Apostel Paulus predigend durch Kleinasien zog. Erstaunlicherweise überlebte sie Vierteilen, Verbrennen und andere Qualen und soll sogar neunzig Jahre alt geworden sein.
Als wir den Berg verlassen, ist er schon komplett in Nebel getaucht. Auch unten im Hafen liegt noch ein leichter Dunst in der Luft. Im Hafenbecken schaukeln kleine Schiffe. Hier leben wirklich noch viele Leute vom Fang der Fische und Meeresfrüchte.
Hier unten führt auch der Weg nach Santiago de Compostela entlang. Die gelben Muscheln werden mich in den nächsten Tagen begleiten und mir zeigen, wohin mich meine Schritte führen sollen. Ich bin ein bisschen traurig, dass ich A Guarda schon so schnell wieder verlassen muss. Eigentlich gibt es hier noch viel zu erkunden. Aber ich freue mich auch auf den Jakobsweg und das Wandern an der Küste.
Infos zu A Guarda
A Guarda liegt an der Grenze zu Portugal in der galicischen Region Rías Baixas. Der Besuch der archäologischen Stätte auf dem Berg kostet mit Guide nur 2,50 Euro. Mehr Infos zu der Siedlung der Castreixos und dem Ort findest Du auf der Website von A Guarda.
Übernachtet habe ich übrigens in einem niedlichen kleinen Hotel, in dem ich morgens beim Frühstück schon die ersten „Pilger“ getroffen habe. Die Leute, die auf dem Jakobsweg unterwegs sind, sind wirklich schnell an der sportlich funktionalen Kleidung zu erkennen. Egal ob jung oder alt, ob Ausländer oder Einheimischer, ob mit Rucksack oder ohne.
Hotel Eli Mar
Rúa Vicente Sobrino, 12
36780 A Guarda
Hinweis: Dieser Artikel ist im Zusammenhang mit meiner Wanderung auf dem Jakobsweg entstanden, bei dem ich von Correos (der spanischen Post) unterstützt wurde. El Camino con Correos hat meinen Gepäcktransport und einige der Unterkünfte organisiert. Vielen Dank dafür!
habe gehört die Gefährtin des Apostel Paulus soll in der heutigen Türkei ihr Lebensende gehabt haben.
Das kann durchaus sein! Immerhin hat sie da gelebt und soll an die neunzig Jahre alt geworden sein 🙂
Liebe Grüße