El Call nennt man die Straßenzüge, in denen einst die jüdische Bevölkerung lebte. In Barcelona führten zwei Tore in das Viertel, in dem mehrere Tausend Menschen zu Hause waren, eines an der Plaça Major, das andere am Carrer Sant Ramon (früher Arc del Gall). Von der Plaça del Pi bis hinter die Kathedrale wohnten hier dicht an dicht jüdische Familien, gingen ihren Berufen nach, kauften ein und folgten ihren Traditionen und religiösen Ritualen.

mesusa el call barcelonaTypische Einkerbung einer Mesusa – Casa Adret 

Vom einst blühenden jüdischen Leben im Call ist heute außer vereinzelten hebräischen Buchstaben auf mittelalterlichen Mauersteinen und ein paar Mesusas, kleinen Einkerbungen für Schriftkapseln, die jüdische Bewohner beim Verlassen des Hauses berührten, nicht viel erhalten geblieben. Dabei gab es in den engen Gassen zwei Synagogen, eine jüdische Schlachterei und jüdische Bäder. Straßennamen wie Carrer Banys nous, Carrer Banys vells, die Straßen der Bäder, erinnern noch an die mittelalterlichen Bewohner. Die einstige Hauptstraße des Call wurde 2018 umbenannt und trägt nun den Namen eines berühmten jüdischen Gelehrten, des Rabbiners Salomó ben Adret.

carrer marlet salomo ben Adret el call barcelona

Jüdische Ärzte wurden auch von Christen sehr geschätzt, allerdings konnten nur die wohlhabenden Schichten sich ihre Dienste leisten. Jüdische Gelehrte verliehen der Stadt einen guten Ruf und verkehrten sogar am Hofe der Grafen von Barcelona. Der Rabbiner und Gelehrte Bonastruc ça Porta, auch Nahmanides genannt, galt als Vertrauter und wichtiger Berater am Hofe Jaume I, des Eroberers, Graf von Barcelona und König von Aragón.

Jüdische Berater am Hof zu haben, war durchaus nicht ungewöhnlich. Sie übersetzten wissenschaftliche Texte aus dem Arabischen oder Hebräischen und waren sehr gebildet. Gute Beziehungen zu wohlhabenden, jüdischen Bürgern ermöglichten den Regierenden teilweise sogar eine gewisse Unabhängigkeit von den reichen Adelsfamilien, die zwar im Falle einer anstehenden Schlacht die Ausrüstung stellten, aber in Katalonien traditionell auch ein gewisses Mitspracherecht bei den Regierungsgeschäften hatten. Das jüdische Viertel in Barcelona unterlag nicht der Gerichtsbarkeit der Stadt, sondern die Bewohner des Call unterstanden direkt dem Grafen von Barcelona bzw. König von Aragon.

Jahrhundertelang lebten Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft oder Religionen in der Stadt zusammen. Vor dem 11. Jahrhundert spielte der Glauben bei der sozialen Integration noch eine eher untergeordnete Rolle. Natürlich gab es wie überall in rauen Zeiten auch hier Auseinandersetzungen, doch man hatte sich arrangiert. Erst im 12. Jahrhundert begannen die Menschen sich in ihrer kulturellen Identität als Christen, quasi als Gegenstück zum Islam, zu empfinden. Bald schon festigte sich diese über den Glauben definierte Identität immer mehr. Andersgläubige, auch jüdische Mitbewohner, wurden ausgegrenzt.

el call barcelona

Pere der Katholische stellte die Juden im 12. Jahrhundert noch unter seinen ausdrücklichen Schutz. Aus Frankreich vertriebene Menschen jüdischen Glaubens siedelten sich vor den Toren der Stadt in einem neuen, kleineren „Call Menor“ an. Sie durften ihre Häuser direkt an die alte Stadtmauer bauen, während unter Jaume dem Eroberer zu Beginn des dreizehnten Jahrhunderts ein neuer Befestigungsring entstand.

Ein wachsender Antisemitismus führte im vierzehnten Jahrhundert dazu, dass immer mehr jüdische Gelehrte und ganze Familien das Land verließen. In Sevilla und Valencia hatte er schon zu schrecklichen Ereignissen geführt, als es schließlich auch in Barcelona 1391 zu einem schweren Überfall auf das jüdische Viertel kam. Eine aufgestachelte Masse stürmte das Viertel, in dem die Juden lebten. 300 Menschen verloren bei diesem Pogrom ihr Leben. Die Einwohner des Call flohen aus der Stadt. Wer konnte, verkaufte sein Hab und Gut und ging für immer fort. Andere blieben und konvertierten zum Christentum.

casa adret el call barcelona

Auch ein Haus im heutigen Carrer Salomó ben Adret, in dem bis dahin zwei jüdische Familien gelebt hatten, wurde verkauft. An den Fensterrahmen im ersten Stock erkennt man noch die ehemaligen Hauseingänge: Die Einkerbungen der Mesusas sind deutlich zu sehen. Auch wenn in dem alten Innenhof die mittelalterliche Treppe längst durch eine moderne Treppe ersetzt wurde, kann man sich diesen Hof voller Leben vorstellen.

Mittlerweile sind hier verschiedene jüdische Organisationen eingezogen, die sich zum Ziel gemacht haben, das jüdische Leben in Barcelona wieder sichtbar zu machen. Dabei geht es ihnen nicht nur darum, an den Alltag und das Zusammenleben vor der Vertreibung der Juden aus ganz Spanien zu erinnern. Toldot, Mozaika und andere Vereinigungen organisieren Ausstellungen, Lesungen, Musikfestivals und diverse Aktivitäten auch zur jüngeren Geschichte, denn zu Beginn des letzten Jahrhunderts und während des Zweiten Weltkriegs kamen wieder vermehrt Menschen jüdischen Glaubens nach Barcelona.

barcelona casa adret

Memòria Jueva a la Catedral

Die Casa Adret ist ein Kultur- und Informations-Hub jüdischer Organisationen wie Toldot oder Mozaika. Auf den Webseiten findet Ihr Kochkurse, Stadtführungen, Literaturkreise etc. Zu den neusten Projekten der Casa Adret gehört eine beeindruckende Zusammenarbeit mit dem Archiv der Kathedrale von Barcelona: Im Rahmen der arbeitsintensiven „Entdeckung der jüdischen Erinnerung“ kamen Jahrhunderte alte Pergamente zum Vorschein, die das alltägliche Leben im mittelalterlichen Barcelona dokumentieren. Im Rahmen der Führungen durch das Archiv kann man einen Blick auf diese besonderen Funde werfen.

Archiv Kathedrale Barcelona

Allein das Betreten des Triforiums, dieses weit oben gelegenen Ganges rund um das Kirchenschiff, lässt mich den Atem anhalten. Einst führte eine Brücke von hier oben direkt in den Palau Reial, sodass die Palastbewohner ungesehen und ungestört an der Messe teilnehmen konnten. Wir kommen an ausrangierten Statuen, meterhohen uralten Büchern und wackeligen Kerzenständern vorbei. Eigentlich könnte ich einfach nur auf dem Gang bleiben und alles in Ruhe betrachten. Allein beim Anblick der Bücher muss ich ehrfürchtig nach Luft schnappen, aber auch der Blick ins Kirchenschiff hinunter fühlt sich „geheimnisvoll“ und erhaben an.

kathedrale Barcelona

Archivo Kathedrale Memoria jueva

Als ich das alte Archiv betrete, komme ich aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Eine unglaubliche Menge handgeschriebener Dokumente ruht in hölzernen Fächern und Schränken. Staunend spaziere ich durch das alte Gemäuer zu einer Vitrine, in der die wichtigsten Funde des Projekts ausgestellt sind. Dokumente, die die Hochzeit eines jungen Mädchens regeln, notarielle Beglaubigungen, Kaufverträge. In einem weiteren Raum ist eine kleine Ausstellung eingerichet. Dort steht ein Schreibtisch, man darf Schubladen aufziehen und in den Karteikarten stöbern. An den Wänden klären Tafeln über den jüdischen Alltag auf, welche Berufe übten die Menschen aus, wie lebten die Frauen. Zum Abschluss lässt ein kurzer Film ganz unterschiedliche Menschen jüdischen Glaubens zu Wort kommen.

Archiv Kathedrale Barcelona

Archiv Kathedrale Barcelona

Infos El Call de Barcelona

  • Buchen kann man diese Führungen auf der Website mozaika.es/visita. 
  • Ein informatives PDF mit Karte des Viertels: www.barcelona.cat/museuhistoria/
  • Auch in Girona gab es ein jüdisches Viertel, El Call de Girona, in Besalú kann man ein Mikwe besichtigen.
  • MUHBA El Call: Mitten im Call befindet sich ein kleiner Ableger des Historischen Museums MUHBA El Call. Neben verschiedenen Ausgrabungsstücken und Dokumenten gibt es ein Video über das Leben im Call. Geöffnet ist es leider nur mittwochs zwischen 11-14 Uhr und sonntags von 11-15 Uhr und 16-19 Uhr. Der Eintritt kostet 2 Euro für Erwachsene.
  • Die angebliche Synagoge Barcelonas ist eine private Ausstellung, die eine jüdische Synagoge nachstellt. Eine Zeit lang hatten Historiker vermutet, dass sich im Carrer Marlet eine Synagoge befunden haben könnte. Mittlerweile gehen sie jedoch davon aus, dass sie an der Stelle stand, an der sich heute das Gebäude der Vinateria del Call befindet.

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