Da soll ich hoch? Wir stehen mitten im Naturpark Montseny, als Marc mir den Gipfel zeigt, einen kleinen für Anfänger. Mich verlässt fast der Mut. Niemals komme ich da oben an! Das ist schon ein richtiger Berg. Der Gipfel „les Agudes“ liegt auf immerhin 1700 m. Auf keinem Foto wird später so richtig zu sehen sein wird, wie beeindruckend steil der Gipfel da in den Himmel ragt.
Aber ich will da hoch. Ich will diese Aussicht vom Gipfel auf die Welt da unten selbst erleben. Zu oft schon habe ich, etwas neidisch, diese wundervollen Fotos von Freuden angesehen, wie sie ganz oben auf einem Gipfel stehend, glücklich strahlend in die Kamera grinsen. Das kleine Problem ist nur, dass ich eher unsportlich bin. Leider. Die Arbeit, die Kinder, irgendwie habe ich nie Zeit. Seit ich in Spanien lebe fahre ich sogar nur noch selten mit dem Rad. Schlimm.
Mein einziger Sport ist Tauchen. Das liebe ich, aber dazu braucht man auch nicht viel Kraft. Der Trick besteht ja eher darin, sich möglichst mit der Strömung zu bewegen und im Wasser fast zu schweben. Das funktioniert am Berg aber wohl eher nicht. Was da vor mir steht, sieht nach harter, anstrengender und schweißtreibender Arbeit aus. Ich hoffe, dass meine Lungen das durchhalten. Zum ungefähr zehnten Mal in diesem Jahr nehme ich mir vor, mit dem Rauchen aufzuhören. Dieses Mal aber ganz im Ernst! Ich will da hoch!
„Falls du dir das nicht zutraust, können wir auch einen einfacheren Weg nehmen“, meint Marc, der wieder mal mein Guide im Naturpark Montseny ist. Wir könnten zur Not bis zum Parkplatz in der Nähe des Nachbargipfels, el turo de l’home, mit dem Auto fahren. Von dort spaziert man dann gemütlich auf dem Gipfelkamm bis zur anderen Spitze, den Agudes. Der Weg dauert nur ungefähr 40 Minuten und ist längst nicht so steil. „Und wie lange brauchen wir, wenn wir von unten zu Fuß auf den Gipfel steigen?“ frage ich. „Kommt drauf an“ – grinst Marc mich an. „Wenn man gut im Training ist, kann man das in einer Stunde schaffen. Ansonsten braucht man circa zweieinhalb Stunden. Und das letzte Stück ist ziemlich steil.“ (Info am Rand: ich habe fast drei Stunden gebraucht!)
Die Versuchung die Abkürzung zu nehmen ist groß. Nein – sage ich dennoch tapfer. Ich will mir den Gipfel ehrlich erarbeiten. Zumindest will ich es probieren. Wenn ich auf der Hälfte nicht mehr weiterkomme, habe ich es wenigstens versucht. Marc macht mir Mut. „Das ist die richtige Einstellung. Wir haben ja den ganzen Tag Zeit. Dann also los.“
Der Weg fügeht zunächst nur geradeaus, ohne Steigung. Das ist ja einfacher als gedacht. Ein Adler kreist nur wenige Meter über uns. Ich kann sogar seine Federn sehen, so dicht scheint er zu sein! Die Kamera ist im Rucksack. Bis ich die zur Hand habe, ist der Adler längst verschwunden. Schade. Die Sonne scheint unbarmherzig von Himmel. Zum Glück erreichen wir bald ein schattigeres Stück Weg im Wald. Jetzt ist es angenehm kühl. Rechts neben uns taucht ein altes Gemäuer aus dem Grün der Blätter auf. Ein ehemaliges Kloster. Mittlerweile ist das ein Hotel, sogar ein ziemlich teures, erklärt Marc. Ich sehe keine Menschenseele. Viel los ist hier nicht gerade. Nur ein paar Grabsteine ragen stumm aus dem hohen Gras.
Nach einer Kurve geht der Weg plötzlich bergab. Wieso denn das? Wir wollen doch bergauf? Jetzt muss Marc laut lachen. Der Weg führt natürlich im Zickzack auf den Gipfel. Wenn wir in gerader Linie hochgehen würden, wäre es ja noch viel steiler. Ich verstehe, klingt logisch.
Zwischen den Bäumen erscheint eine Ruine. Es sieht ein bisschen wie ein verlorener Tempel in den Indiana Jones Filmen aus. Es ist aber ist kein Dschungeltempel, sondern eine ehemalige Pfeifenfabrik. Hier wurden hölzerne Pfeifen hergestellt. Da das Holz hier wuchs, war es praktisch, die Fabrik direkt vor Ort zu errichten. Irgendwann scheint das Geschäft sich dann aber wohl nicht mehr rentiert zu haben. Jedenfalls stehen heute nur noch ein paar von Pflanzen überwucherte Mauern hier im Wald.
Langsam wird aus dem Sandweg ein Trampelpfad. Und es geht schon ein wenig bergauf. Am Wegesrand entdecken wir Pilze. Um diese Jahreszeit? Das liegt an der Höhe und dem bergigen Klima. Aber es sind nur einzelne, kleine Pilze. Wie immer, wenn wir unterwegs sind, erklärt Marc mir jeden Stein und jede Pflanze auf unserer Tour durch den Naturpark. Er kennt sich hier aus, wie in seiner Westentasche. Bis vor ein paar Jahren hat er als eine Art Ranger im Montseny gearbeitet, die Wege in Ordnung gehalten, sich um Bäume und andere Pflanzen gekümmert, alte Köhlerhäuser wieder aufgebaut und solche Sachen, die man im Naturpark eben machen muss.
Unterwegs wachsen viele Brombeeren am Wegesrand. Ich kann es natürlich nicht lassen und nasche ein bisschen. Marc sind die Beeren zu sauer. Ich finde sie super lecker! Wenn ich mal alt bin und ein Haus mit Garten haben werde (träum), dann müssen da unbedingt Brombeersträuche sein. Und Himbeeren auch.
Immer wieder kommen wir an lustig gestapelten Steinhaufen vorbei. Zuerst dachte ich, da hätte sich ein Kind gelangweilt. Aber es werden immer mehr, immer am Weg entlang. Schließlich muss ich doch fragen. Diese Stapel sind Wegweiser, „fita“ heißen sie. Es sind natürliche Wegweiser, die neben den offiziellen Wegmarkierungen (farbige Streifen an hölzernen Pfosten, immer mit einer bestimmten Nummer versehen) dafür sorgen sollen, dass sich die Wanderer nicht verlaufen. Gute Idee, finde ich. Und auch noch schön anzusehen.
Immer steiler geht es bergauf. Immer öfter mache ich kleine Verschnaufpausen. Um mich anzufeuern, zeigt Marc mir den Gipfel. Wir sind gleich da. Ja ja, das sagt er schon seit einer halben Stunde. Ich habe das Gefühl, ich komme nicht wirklich vom Fleck. Wie lange wir wohl schon unterwegs sind? Egal, bloß nicht weiter nachdenken. Einfach weiterklettern, einen Schritt nach dem anderen.
Weit oben höre ich einen Adler. Dieses Mal kann ich ihn aber nicht sehen. Hoch oben in der Luft kreisend, stößt er seine Rufe aus. Und dann hört der Wald plötzlich auf. Keine Bäume mehr, vor uns liegen die letzten Meter des steinigen Weges zum Gipfel! Das Ziel ist nah. Ich bin wieder hochmotiviert. Bis zum Gipfelkreuz ist jetzt wirklich nicht mehr weit! Am liebsten würde ich die letzten Meter laufen.
In der anderen Richtung, mit Blick auf den Felsenkamm zum Turo de l’home, sehe ich in der Ferne einen Wanderer mit einem Kind auf uns zukommen. Was? Die Kleine ist vielleicht 4 Jahre alt! Bei einer Bergwanderung in Tirol hat mich schon mal beinahe ein Kind überholt. Bitte nicht, nach der ganzen Anstrengung! Dass sie „nur“ über den Felskamm kommen, und nicht den ganzen Aufstieg gemacht haben, ist fast egal. Jetzt renne ich doch fast die letzten Meter bis zum Gipfel. Verfluchte Eitelkeit.
Dann sind wir da: Das Kreuz ist zum Greifen nah. Jupiiii!! Ich habe es geschafft. Der Ausblick ist wirklich unglaublich. Die Glückshormone durchströmen mich und tanzen Tango. Ich schwebe wie auf Wolken. Die ganze Welt liegt mir zu Füßen. Weit kann ich über die Wege, Wiesen, Täler und Berge sehen – was für eine Aussicht. Bei gutem Wetter und klarer Sicht, soll man sogar Mallorca von hier aus erkennen können – behauptet Marc. Er muss es ja wissen. Aber ich bin zum ersten Mal hier und Mallorca ist gerade nicht zu sehen. Aber das ist mir so was von egal. Ein paar Meter unter mir ziehen Wolken langsam und gespenstisch vorbei. Wow! Hier bleibe ich. Wir setzen uns ein Stück vom Gipfelkreuz entfernt auf die Steine und futtern unsere Brote. Auch Marc strahlt glücklich. Er liebt die Berge einfach. Ich glaube, ich kann das jetzt verstehen. Auch Berge können echt süchtig machen.
Nützliche Informationen:
Super Website für alle Wanderer und Bergsteiger: www.entremontanas.com
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