Es sind keine Originale, die hier hängen. Und dennoch. Das Centre Picasso in Gósol hat mich schwer beeindruckt. Ob es nun an Picasso lag oder vielleicht auch einfach an der tollen Führung, bei der uns erklärt wurde, was den Maler hierher geführt hat und wie der Aufenthalt in den Pyrenäen seine Arbeit beeinflusste. Ich bin völlig fasziniert von diesem kleinen Dörfchen in den Bergen.

Fast drei Monate hat Picasso 1906 in Gósol verbracht. Zu dieser Zeit lebte er eigentlich schon in Paris, dem „place to be“ wenn man als Künstler etwas gelten wollte. Doch Picasso hatte sich quasi eine Auszeit genommen und war mit seiner Freundin Fernande zunächst nach Barcelona gereist und von dort mit der Bahn bis Guardiola de Berguedà gefahren. Von da aus ging es nur noch mit Mauleseln weiter. Ein echtes Abenteuer.

Gósol

Gósol war ein abgelegenes Bergdorf. Aber genau das suchte der junge Spanier. Picasso war ein guter Maler, hatte die klassischen Belles Artes studiert und viele Freunde unter den Modernisten in Barcelona. Doch außerhalb dieser Künstlerkreise kannte ihn niemand. Als Maler war Picasso noch völlig unbekannt.

In Paris hatte er begonnen, an einem Porträt Gertrude Steins zu arbeiten. Doch das Gesicht wollte ihm einfach nicht gelingen. Ausgerechnet Gertrude Stein, die große Mäzenin, die damals zu den einflussreichsten Sponsoren der Kunstwelt zählte. Wer es in Paris zu etwas bringen wollte, tat gut daran, zum Bekanntenkreis dieser außergewöhnlichen Frau zu gehören. Picasso hatte sicher gehofft, Gertrude Stein zu überzeugen, damit sie ihm auf seinem zukünftigen Weg helfe, doch das Porträt blieb zunächst unvollendet. Picasso steckte in der Krise.

Die Ratschläge seine Künstlerfreunde waren gut gemeint, aber sie gingen in die falsche Richtung. Seine Freunde dachten ausschließlich an die Verkaufbarkeit der Bilder. Das half Picasso nicht weiter. Er suchte etwas anderes. Und so ergriff er quasi die Flucht, reiste weit weg, weg von allem, und ging in die Pyrenäen.

Gósol

Mit der Erfindung der Fotografie hatte sich für die Maler Ende des neunzehnten Jahrhunderts vieles verändert. Künstler, die bisher mit Porträt- oder Landschaftsmalerei ihr tägliches Brot verdienten, sahen sich nun der Konkurrenz der Maschinen ausgesetzt. Fotoapparate konnten die Welt viel exakter und schneller abbilden, als ein Gemälde.

Statt mit der Fotografie zu konkurrieren, beschritt Picasso jedoch einen ganz anderen Weg. Weit oben in den Bergen begann er das zu malen, was eine Kamera eben nicht darstellen konnte. Unter den rund 300 Skizzen, die er während der acht Wochen in Gósol anfertigte, ist ein Bild, das mir besonders gut gefällt: „Harem„. Es zeigt eine alte Frau im Hintergrund, einen Mann rechts unten im Vordergrund, vermutlich Picasso selbst, und vier nackte junge Frauen in der Mitte des Bildes. Bei genauerem Hinsehen stellt man fest, dass es nicht vier verschiedene Frauen sind, sondern viermal dieselbe Frau in unterschiedlichen Posen ist. Picasso hat seine Freundin Fernande gleichzeitig in unterschiedlichen Haltungen gemalt. In diesem Bild hat Picasso das traditionelle Raum-Zeit-Gefüge sozusagen aufgehoben. Genial!

Nur ein Jahr später entstand das bekannte Ölgemälde „Les Desmoiselles d’Avignon„. Der Titel bezieht sich auf ein Bordell im Carrer d‘Avignon in Barcelona, das Picasso aus seiner Zeit dort bekannt gewesen sein muss, aber der Aufbau erinnert eindeutig an das Bild, das er in Gósol skizziert hat.

Ausstellung Picasso Gósol

Inspiriert durch die Bergwelt mit ihrer roten Erde und den ockerfarbenen Häusern begann sich Picassos Stil zu ändern. Anfangs malte er noch klassische Körper mit perfekten Proportionen, vor allem Jünglinge und Frauen, denn Männer gab es in Gósol kaum. Die arbeiteten auf den Weiden und hüteten das Vieh oder verdienten als „Schnitter“ den Lebensunterhalt für die Familie. Es waren die Frauen in Gósol, die das Dorfleben bestimmten, die sich während der langen Abwesenheit der Männer um Haus, Hof und Kinder kümmerten. Gósol war praktisch ein Matriarchat.

Als Picasso in der Dorfkirche eine romanische Madonna mit ihren zeitlosen Gesichtszügen entdeckte, kam es zu einer entscheidenden Wende. Diese „einfache“ frühe Kunst, die er in den Bergen vorfand, beschäftigte den Künstler und romanische Züge sollten von nun an einen entscheidenden Einfluss auf sein weiteres Werk haben. Immer häufiger tauchten sie in seinen Bildern auf. Immer weiter entfernte Picasso sich von der realistischen Darstellung. Er malte Gesichter nun nicht mehr als naturgetreues Abbild der Wirklichkeit, sondern er verstand sie als etwas, das über die Realität hinausging, als eine konkrete Idee. Das war Picassos erste Annäherung an den später entstehenden Kubismus.

Der einzige alte Mann im Dorf, den Picasso immer wieder malt, ist der Herbergsvater. Während der an die achtzig Jahre alte Mann Geschichten vom Leben und Legenden des Pedraforca erzählte, malte Picasso ihn. Im Gegensatz zu anderen Gesichtern aus dieser Zeit, trägt dieses Porträt nicht die neu entdeckten romanischen Züge, die den jungen Spanier geradezu faszinieren. Hier arbeitete Picasso ganz klassisch und zeigte Alter und Falten des Mannes. Als er später in Paris das Gemälde der Gertrude Stein vollendete, war ihr Gesicht eine Mischung aus den androgynen Zügen der romanischen Madonnen und des achtzigjährigen Herbergvaters. Wirklich begeistert war Madame Stein von Picassos Darstellung nicht. Sie war gerade erst 30 Jahre alt und fand sie habe keinerlei Ähnlichkeit mit diesem Bild. Doch Picasso hatte schon wieder an Selbstbewusstsein gewonnen. Er soll ihr geantwortet haben, dass sie dem Gemälde in ein paar Jahren schon ähnlich sehen werde.

centre picasso

La Porteuse de Pain„, eine junge Frau mit zwei Broten auf dem Kopf, zählt wohl zu den bekanntesten Werken, die Picasso in Gósol angefertigt hat und hängt heute in einem Museum in Amerika. Das Gesicht trägt die Ansätze der romanischen Züge, die nun schon typisch für Picasso werden. Die Augen der jungen Frau scheinen den Betrachter zu verfolgen und das geheimnisvolle Lächeln auf ihren Lippen erinnert an da Vincis Mona Lisa. Zu Picassos Zeit war es unter den Frauen in Gósol üblich, das Brot auf dem Kopf zu tragen, um die Hände für andere Dinge frei zu haben.

Porteuse de pain picasso Gósol

Im Dorf munkelte man, die junge Frau habe in den vielen Stunden bei Picasso nicht nur Modell gestanden. Ob daher wohl dieses wissende, geheimnisvolle Lächeln stammt? Ende August, kurz bevor die Männer von den Feldern heimkehrten, reiste Picasso jedenfalls vorzeitig ab. Vielleicht fürchtete er die Wut eines Vaters oder Ehemannes, vielleicht floh er  vor einer ungewollten Schwangerschaft? Man weiß es nicht. Warum er so spontan aufbrach, ist ein Geheimnis. Zurück blieben nur ein paar persönliche Habseligkeiten Picassos, die er nie mehr abholen kam.

Häuser von Gósol

In der kleinen Ausstellung ist auch ein Bild zu sehen, auf dem Picasso den Blick aus dem Fenster seiner Pension festgehalten hat. Es zeigt die Häuser des kleinen Bergdorfs in vereinfachter, kubistisch anmutender Schlichtheit, ohne Details. Nicht einmal die Kirche hat er in seinem Bild festgehalten. Nur die Ruinen der Burg sind im Hintergrund zu erkennen.

Nach dem Besuchder Ausstellung klettere ich durch die engen Gassen hinauf auf den Hügel, bis ich in den Ruinen dieser Burg stehe. El Castell de Gósol war in Zeiten Galceran el Pinós ein Zufluchtsort der Katharer, die aus Montségur im heutigen Frankreich, vor den Soldaten des Papstes fliehen mussten.

castell de gòsol   Burg Gósol Castell
Genau genommen sind die Ruinen hier oben auf dem Hügel nicht nur eine Burg, sondern eine befestigte kleine Siedlung mit der Kirche Santa Maria. Der kleine Ort namens Gosal tauchte bereits im Jahre 839 in alten Kirchendokumenten auf. Im elften Jahrhundert scheint ein gewisser Galceran diese und andere Burgen vom Compte de Cerdanya zu übernehmen. Auch als der Besitz vom Compte de Cerdanya auf den Grafen von Barcelona übergeht, bleibt Galceran de Pinós Feudalherr der Burg. Im 13. Jahrhundert, also die Zeit in der viele Katharer Unterschlupf und eine eine neue Bleibe suchten, wuchs Gósol und entwickelte sich zu einer bedeutenden Siedlung.

Infos zu Gósol

Das Zentrum Picasso ist ganz einfach zu finden. Es liegt direkt am zentralen Dorfplatz neben der Kirche. Mitten auf dem Platz zwischen ein paar Bäumen und Bänken steht eine kleine Statue, die an Picassos „Porteuse de pain“, die Frau mit dem Brot auf den Kopf, und an den Besuch des Malers hier oben in den Bergen vor über hundert Jahren erinnert.

Centre Picasso (Edifici del Ajuntament)
Plaça Major  1
25716 Gósol
Website

Eintritt : Es lohnt sich unbedingt eine Führung mitzumachen, bei der die Umstände Picassos Aufenthalt in den Bergen erklärt werden. Auf Spanisch und Katalanisch finden die Führungen regelmässig statt. Für eine Führung auf Englisch sollte man sich besser vorher anmelden, denn es kommen nur sehr wenige ausländische Besucher in diese Gegend.

Info: Leider darf man keine Fotos der Werke Picassos veröffentlichen.