Durch ein altes Fenster des Bauernhauses fällt mein erster Blick am Morgen auf grüne Bäume und einen alles überragenden Gipfel in nicht allzu weiter Ferne. Die Fensternische, die dazu einlädt stundenlang die Landschaft des Montseny zu betrachten, sieht aus, als hätten hier früher die Burgfräulein gestickt. Vermutlich hatten die Menschen, die in alten Zeiten auf so einem Hof im Montseny lebten, allerdings nicht wirklich viel Zeit zum Sticken.
Ich reiße mich von meinen Überlegungen los und gehe nach unten. Die Sonne ist gerade erst aufgegangen, und noch ist es ruhig im Mas Vilar, in dem Jaume und Noemi Gäste wie Michi und mich beherbergen. Leise schleiche ich durch den Flur, um mich in der frühen Landschaft umzusehen, doch in der Küche wird schon das Frühstück vorbereitet. Zeit für einen kurzen Spaziergang habe ich aber noch. Ich muss auch gar nicht weit gehen, denn rings um die alte Masia ist einfach nur Natur.
Sonnenstrahlen blinzeln durch die hohen Bäume, irgendwo plätschert Wasser, wie immer im Montseny, und ein Hund bellt in der Ferne. Im Gegensatz zu anderen Landstrichen, die um diese Jahreszeit unter großer Hitze und Trockenheit leiden, wachsen hier üppige Farne im Unterholz der Bäume. Schafgarbe säumt den Wegesrand und an den Kastanien wachsen schon die kleinen stacheligen Kugeln, die im Herbst geröstet werden.
Zurück im Haus wartet Michi bereits mit einer Tasse Kaffee auf der Terrasse auf mich. Jaume und Noemi haben uns erklärt, welche Wanderungen wir hier machen können. Es gibt so viele verschiedene Strecken, da ist was für die Mama mit der zweijährigen Tochter, die sportlich ambitionierte Bergwanderin und auch für uns ist etwas dabei. Da wäre der Tagesausflug zu der Font dels 4 Rajos, der Weg nach Santa Fé, von wo aus es auf die Agudes oder den Turo de l‘home, zwei der Gipfel des Montsenys, geht, oder einfach in die Colls. Oder wir verbringen den Tag einfach im Pool oder mit einem Buch in einem der zahllosen stillen Winkel der Masia.
Am Abend gackern die Hühner und die Esel schreien laut, wenn Jaume sich mit dem Futtereimer nähert. Tagsüber treiben sich die Vierbeiner irgendwo im Wald herum, aber sie wissen ganz genau, wann es Futter gibt. Der kleine Zwergesel schreit am lautesten. Prompt versenken sie die Schnauzen hungrig in ihren Eimern und kauen drauflos. Ich kann die kräftigen Zähne bei der Arbeit hören. Langsam werden auch wir hungrig. Noemi werkelt bereits in der Küche und bereitet das Abendessen für uns zu. Mit dem jeweiligen Gemüse der Saison, Produkten aus der Region, bringt sie jeden Tag leckere Dinge auf den Tisch. Heute gibt es überbackene Auberginen gefüllt mit Gemüse, Kichererbsenbällchen mit einem Kokosgemüseeintopf und für den Fleischesser gebratenes Hühnchen mit Süßkartoffeln.
Von Arbúcies, das ist der nächstgelegene Ort im Montseny, fahren wir nach Viladrau, ganz am Rande des Naturparks. Dort erzählt ein kleines Museum in Filmen die Geschichten der Räuber und Hexen oder die Legenden der Wasserfrauen.
Sant Hilari de Sacalm gehört nicht mehr direkt zum Montseny, sondern liegt in den Guilleries, dort wo das Wasser nur so aus dem Boden sprudelt. Die Wälder der Gebirgskette, die sich nordöstlich des Montseny erstrecken, sind nach den vielen Füchsen (guilles) benannt, die dort leben. Früher trieben sich allerdings nicht nur Füchse in den Guilleries herum. Auch der legendäre Räuber Serrallonga, der von den Reichen nahm, um den Armen zu geben, soll sein Unwesen auf den Straßen durch die Berge getrieben haben.
In den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts waren die Quellen in und um Sant Hilari ein wahrer Pilgerort für wohlhabende Menschen, die sich von den angebotenen Trinkkuren die Heilung verschiedenster Krankheiten versprachen. Die Font Vella liefert jede Menge leckeres Trinkwasser, das in Flaschen abgefüllt und überall verkauft wird. Doch nicht aus allen Quellen kann man das Wasser in beliebigen Mengen. Aus der Font Picant sprudelt ein medizinisches Wässerchen, das früher quasi auf Rezept des Arztes nur in bestimmten Dosen getrunken wurde. Von dem prachtvollen Balneario, einem heute leider leerstehenden Gebäude, das noch von altem Glanz zeugt, geht es ein paar Stufen hinab zur Quelle.
Ein kleines Bächlein, die Riera de la Gavarra plätschert am Weg entlang. Doch vor einem Jahr hatte der Sturm Gloria hier alles in einen reißenden Fluss verwandelt. Eine Markierung an den Bäumen zeigt, wie hoch das Wasser des Baches gestanden hat! Unglaublich. Carmen, die nette Dame, die uns an der Font Picant herumführt, meint, die großen Steine seien vor dem Sturm noch nicht hier gewesen. Das war alles Sand, wie ein kleiner Strand, sagt sie und wendet sich kopfschüttelnd wieder der Quelle zu, die sie uns eigentlich zeigen will.
In den 70 Fächern oberhalb der Quelle bewahrten die Hotelgäste ihre Trinkbecher auf, jedes Zimmer hatte eine Nummer und ein Fach. Direkt vor der etwas rostig aussehenden Quelle befindet sich eine Art Sitz. Der Platz war für eine Person, deren Aufgabe darin bestand, das Wasser aus der Quelle zu entnehmen und den Gästen entsprechend des jeweiligen Rezepts, eine bestimmte Menge in den Becher abzufüllen. So eine Trinkkur bestand darin, jeden Tag eine individuelle Dosis, ein-Finger-breit, zwei-Finger-breit, ein halbes Glas oder einen Liter, aus der Font Picant zu trinken. Die Menge konnte von Person zu Person und von Tag zu Tag variieren, je nachdem unter welcher Beschwerde ein Gast litt. Carmen steigt für uns zur Quelle hinab und lässt uns von dem frisch gezapften Wasser kosten.
Es schmeckt sagen wir mal “ungewöhnlich”. Picant heißt übersetzt scharf oder würzig. Das stimmt soweit. Aber wirklich lecker ist es nicht. Soll es ja auch gar nicht, denn die enthaltenen Mineralien, wie Eisen, sollen eine heilende Wirkung haben. Es ist also quasi eine Medizin. Nach zwei Schlucken entscheide ich, dass das genug für meine Gesundheit ist und lausche lieber der Geschichte des Jaumets.
Jaume war ein Waisenkind. Bei einem Brand hatte er seine gesamte Familie verloren und sprach seit diesem Tag kein einziges Wort mehr. Doch er hatte überlebt und sich mit einem kleinen Karren ein Geschäft aufgebaut. Er füllte Wasser der verschiedenen Quellen ab und verkaufte es auf seinem Karren an die Gäste. Jaumet war kleinwüchsig und stumm, aber bei den Männern und Frauen von Sant Hilari Sacalm sehr beliebt. Jeder hier kannte ihn. Zu seinem Andenken benannte ein Bäcker sogar ein spezielles Gebäck nach ihm, die “Jaumets”.
Carmen erzählt, dass es hier in der Blütezeit der Trinkkuren zu Beginn des letzten Jahrhunderts sogar eine Bar gegeben haben soll, die sich darauf beschränkt hatte, Wasser auszuschenken. Eine richtige Wasser-Bar, die die verschiedenen Wässerchen der unzähligen Fonts anbot. Aber als die zahlenden Besucher ausblieben, verschwand auch die Bar. Mit dem Spanischen Bürgerkrieg endete die Blütezeit der Balnearios. Statt Wasser verlegten sich die Menschen in Sant Hilari auf den Verkauf und die Verarbeitung von Holz. Wie zum Beweis fährt ein mit dicken Baumstämmen beladener LKW durch den Ort, gerade als wir auf der kleinen Placeta einen Wein trinken und die lokalen Tapas probieren.
Infos zum Mas Vilar
Jaume und Noemi findest Du das ganze Jahr über in der Mas Vilar. Wir fahren bestimmt bald wieder hin, denn selten haben wir uns so entspannt wie an den zwei kurzen Tagen dort. Und nachhaltig ist die Mas Vilar natürlich auch noch. Die beiden arbeiten eng mit anderen kleinen Unternehmen im Montseny zusammen, das Wasser wird mit Solarzellen erwärmt und im Winter wird mit Biomasse geheizt.
www.masvilar.cat/en/
Und außer Wandern kannst Du hier auch Kräuterspaziergänge machen und lernen, Deinen eigenen Ratafia anzusetzen!
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