In einem Ratafia kannst du die Landschaft schmecken. Das sagt man nicht nur so, das stimmt wirklich. Denn der Ratafia ist ein traditioneller Kräuterlikör aus unglaublich vielen Zutaten, aus fast allem, was du am Wegesrand finden kannst. Darum sind Evarist, Elena und ich heute losgezogen, um Kräuter zu sammeln.
Elena (von creativelena) und ich sind schon früh am Morgen losgefahren, um uns mit dem sympathischsten und besten Kräuterfachmann der Costa Brava zu treffen: Evarist sammelt nämlich nicht nur die Kräuter für das weltberühmte Restaurant Can Roca in Girona. Ganz nebenbei ist er noch ein passionierter Tourguide, der seinen Gästen nicht nur die Natur selbst, sondern die Geschichte der Gegend, die Menschen und die katalanische Küche erklärt.
Masia Buxaus
Bei unserem Spaziergang im Montseny bleibt er wirklich alle paar Meter stehen und findet etwas Spannendes. Schon auf dem Weg zur Masia Buxaus, wo wir die Kräuter sammeln wollen, erklärt er uns total begeistert die besondere Vegetation des Montseny. In diesem Naturpark kurz vor den Toren Barcelonas, sind nämlich drei Klimastufen vertreten: mediterran, kontinental und präalpin. Das ist ziemlich einmalig, denn hier wachsen Pflanzen, die normalerweise kilometerweit voneinander entfernt stehen, auf wenigen Metern nah beieinander.
Kräuter sammeln im Montseny
Evarist ist von Haus aus Botaniker. Er zeigt uns nicht nur die Natur, die uns umgibt. Er lässt sie uns anfassen, riechen und schmecken. Voller Leidenschaft ist er bei der Sache. Und das ist echt ansteckend. Unglaublich, was es schon am Wegesrand alles zu sehen gibt. Man muss es eben nur erkennen. Und so halten wir Pflanzen ins Licht, zerreiben Blüten zwischen den Fingerspitzen und kosten grüne Blätter.
Das Öl des Johanniskraut – färbt die Finger 🙂
Evarist pflückt etwas, das wie ein großes Kleeblatt aussieht. Ich soll probieren, meint er. Also reiße ich ein kleines Stück vom Blatt ab und koste. Es schmeckt wie Sauerampfer! Sofort muss ich daran denken, wie ich als kleines Mädchen mit Oma und Opa durch die Wiesen spazierte und mich auf den Sauerampfer stürzte, wenn ich welchen fand. Sauerampfer war für mich das Allerbeste auf so einem Spaziergang. Aber das hier sieht aus wie Klee. Ich bin verwirrt, doch Evarist klärt mich auf. Dieser Riesenklee nennt sich Oxalis und gehört zu den Sauerkleegewächsen. Lecker!
An einer Stelle wachsen wunderschöne Blumen. Bienen – oder sind es Hummeln?- summen herum und suchen süßen Nektar. „Das sind Passionsblumen, die Blüten der Passionsfrucht“ weiß Evarist. Und er erzählt auch, wie diese Frucht zu ihrem Namen gekommen ist. Denn Passion bezieht sich nicht etwa auf leidenschaftliche Liebe, wie ich immer gedacht habe, sondern soll an die Passion Christi erinnern.
Vor vielen Jahrhunderten, als christliche Mönche im gerade entdeckten Südamerika unterwegs waren und diese Blüte zum ersten Mal erblickten, hatten sie nichts anderes als die Bibel im Kopf. Sie erkannten in der Blüte das Kreuz, an das Christus geschlagen wurde, die fünf Staubblätter waren für sie die Wunden Jesu, die drei Griffel die Nägel und in der weißlich violetten Nebenkrone sahen sie die Dornenkrone. Diese Mönche müssen komplett blind für die Schönheit der Natur um sie herum gewesen sein. Wie kann man bei einer so zarten, wunderschönen Blume an den Leidensweg Jesu denken?
Evarist reicht mir wieder eine Blüte, eine gelbe dieses Mal. Ich stecke sie vorsichtig in den Mund und probiere. Ein super intensiver Geschmack breitet sich sofort in meinem Mund aus. Es ist unglaublich köstlich! „Das ist wilder Fenchel. Der kommt auch mit in unseren bunten Strauss.“ Ich könnte die ganze Pflanze vernaschen. Der schmeckt wirklich richtig gut!
So geht es die ganze Zeit. Ständig findet Evarist etwas Neues und hat eine Geschichte dazu parat. Ich bin total begeistert. Aber eigentlich suchen wir ja Kräuter, mit denen wir Ratafia machen können. Leider ist gerade nicht die passende Zeit, denn eigentlich setzt man den Ratafia im Frühjahr an, wenn viele Pflanzen gerade erst anfangen zu blühen, aber ein paar Zutaten finden wir doch. Vor allem die Wichtigste: Grüne Nüsse (Johanninüsse)! Wir pflücken noch Oregano, Rosmarin, Zitronenverbene, Thymian, Johanniskraut, Lindenblütenblätter, Lavendel, und noch ein paar andere Kräuter.
Foto by © Elena Paschinger
Als wir mehr oder weniger alles zusammenhaben, fahren wir mit unserem Kräuterkörbchen nach Santa Coloma de Farners, in der Hauptstadt des Ratafia. Dort wollen wir uns mit Joan, dem Präsidenten der Confraria de la Ratafia treffen, und unseren eigenen Likör ansetzen.
Confraria de la Ratafia
Ratafia ist keine neue Erfindung. Schon lange haben die Leute auf dem Land ihre Liköre aus wilden Kräutern gebraut. In vielen Dörfern, auch außerhalb Kataloniens, gibt es ganz ähnliche Getränke. Die Zubereitung des Ratafia war eine Tradition, die man lange Zeit von Generation zu Generation weitergegeben hatte, die aber irgendwann in Vergessenheit zu geraten schien. In den siebziger Jahren tranken nur noch ein paar der älteren Dorfbewohner Ratafia. Das änderte sich schlagartig, als eine Gruppe junger Leute in Santa Coloma de Farners beschloss, diese Tradition wiederzubeleben. Sie wollten ein Dorffest organisieren, eines, das anders sein sollte, als die eingestaubten, langweilig gewordenen, üblichen Feste dieser Zeit. Es sollte ein Spaß für alle sein, für alt und jung – Der Grundstein für das erste Ratafia-Fest war gelegt.
Das Fest war ein voller Erfolg. Aus dem ersten losen Treffen von Freunden, entstand bald eine offizielle kulturelle Vereinigung, die Confraria de la Ratafia, die sich zu einem wichtigen Bestandteil des Dorflebens entwickelt hat. Die Mitglieder geben ihr Wissen in Kursen weiter, brauen ihren eigenen Ratafia, bieten verschiedene Aktivitäten an und organisieren jedes Jahr im November ein großes Fest. Dazu gehört mittlerweile auch ein Ratafia-Wettbewerb, bei dem jeder seinen selbst gemachten Kräuterlikör einreichen kann. Eine Jury aus renommierten Fachleuten kürt dann den besten Ratafia.
Auch die Kleinsten machen schon in der Confraria mit. Die Kinder sind die Kräuterspezialisten: Jeder ist für eine bestimmtes Kraut verantwortlich. Das bedeutet, der Fachmann für Rosmarin weiß alles über den Rosmarin. Die Kinder bereiten kleine Präsentation vor, in der sie ihren Freunden, Mitschülern oder auch den Erwachsenen, erklären wie Rosmarin aussieht, wie er schmeckt oder wo er wächst. Zum Ratafia-Fest backen oder kochen etwas, das das jeweilige Kraut enthält, zum Beispiel einen Rosmarin Muffin.
Jeder in der Confraria ist wirklich engagiert bei der Sache. Dieser „Verein“ baut eine Brücke zwischen Alt und Jung. Die Kinder lernen von den Großeltern und die freuen sich, dass sie ihr Wissen an die nachfolgende Generationen weitergeben können. Manchmal wissen die Kleinen mehr über die Natur, als ihre Eltern. Durch die Anstrengungen der Confraria wachsen die Menschen verschiedener Generationen näher zusammen und lernen die Natur, die uns alle umgibt, und die Landschaft wieder zu lieben und nachhaltig zu nutzen.
Wir machen Ratafia
Aber dann geht es an die Arbeit. Wir sind selbst dran, aus den Kräutern unseren eigenen Mix zusammenzustellen. Joan erklärt, welche Zutaten und wieviel davon, wir für unseren Likör verwenden können. „Das einzige Muss sind die Johanninüsse. Die sind die Basis für den Ratafia. Alles andere ist Geschmackssache.“ Ich nehme etwas Rosmarin, etwas wilde Minze, ein bisschen Zitronenverbene, etwas von dem köstlichen Fenchel, und noch ein paar andere Kräuter. „Wer will, darf auch Gewürze in den Ratafia geben“ Also gesellen sich auch noch etwas Anis, Zimt und Pfefferkörner zu meinen Kräutern im Glas.
Evarist erzählt uns, das in anderen Dörfern manchmal Zutaten verwendet werden, die es in den Wiesen und Wäldern hier in Santa Coloma gar nicht gibt. Das liegt unter anderem an den unterschiedlichen Böden, oder manchmal sogar an einem Mikroklima. „Die Leute verwendeten für ihren Ratafia, eben das, was sie vor ihrer Haustür, in ihrer Umgebung finden.“ Ratafia ist wirklich die Landschaft vor der Haustür in eine Flasche gepackt.
Normalerweise wird Ratafia schon im Frühjahr angesetzt, wenn die Wiesen voll sind mit blühenden Kräutern. Joan füllt die Kräutermischung in unseren Gläsern mit einer Crema Anisada auf. Dann kommt ein Deckel drauf. Der angesetzte Sud muss jetzt vierzig Tage lang schön warm aber nicht direkt in der Sonne stehen und ziehen. Erst danach können wir die Flüssigkeit, die bis dahin dunkelbraun geworden sein wird, filtern und haben unseren ersten Ratafia. Vielleicht können wir unser Kräuterkunstwerk dann ja auch zum großen Ratafiafest im November bei der Jury einreichen? Das Fest werde ich mir auf jeden Fall ansehen – aber den Ratafia trinke ich vielleicht doch lieber selbst.
Ratafia 1842
Die Confraria de la Ratafia braut natürlich jedes Jahr ihren eigenen Ratafia. Neben dem Klassiker, der immer nach demselben Rezept zubereitet wird, gibt es eine kleine, limitierte Abfüllung besonderer Ratafias. Die Confraires arbeiten dabei nach uralten Originalrezepten von 1842, die ein gewisser Francesc Rosquelles damals aufgeschrieben hat.
1 Ratafia Clàssica:
Ein traditionelles Rezept mit Kräutern und Gewürzen, sehr weich und typisch im Geschmack.
8 Ratafia Vuit Porrons:
Etwas stärker als der klassische Ratafia.
4 Ratafia Cireras:
Eine eher ungewöhnliche Version aus Kirschen und Branntwein.
2 Ratafia La Nou Verda:
Die grüne Nuss ist natürlich drin, aber ansonsten nur Gewürze, keine Kräuter. Weich und elegant im Geschmack.
Nützliche Infos Ratafia und Kräutertouren:
Ratafia kann man nicht im Internet bestellen und auch nicht in jedem x-beliebigen Laden kaufen. Nur in Santa Coloma de Farners und einigen Läden in der Costa Brava gibt es diese schönen Flaschen, die sogar schon einen Preis gewonnen haben.
Die Confraria arbeitet gemeinnützig. Alle sind freiwillig dabei, Geld verdient Niemand. Der Erlös aus dem Verkauf des Ratafias geht in die Organisation von Festen und Aktivitäten in Santa Coloma de Farnes.
Ach, und wenn Du keinen Alkohol magst, kannst Du die Ratafia Kräuermischung auch als Tee kriegen. Mittlerweile gibt es schon viele regionale Produkte, die Ratafia einsetzen: Brot, Kuchen, Tee, Eis, Marmelade, etc. Sogar eine Wurst mit Ratafia soll es geben. Aber die habe ich noch nicht probiert.
Confraria de la Ratafia: confrariaratafia.cat
Natural Walks – auf der Website findest Du alle Kräuter-Aktivitäten, die Evarist organisiert: naturalwalks.com
Liebe Nicole,
Ganz große Klasse, man spürt richtig die Begeisterung, mit der Dich der Ratafia (sowie die Landschaft rund um Santa Coloma) angesteckt hat. Es hat mir immense Freude bereitet, Dich an diesem Tag zu begleiten und auch mein Beitrag zum gemeinsamen Erlebnis ist in Kürze online 😀
Alles Liebe und bis bald,
Deine Elena!
Es hat echt richtig Spaß gemacht! Ich liebe Kräuter!
Bis ganz bald! bin schon gespannt auf Deine Geschichte!
ganz liebe Grüße
Nicole