Pals verdient nicht nur einen Besuch, sondern Hunderte. Das hat schon Josep Pla, einer der berühmtesten katalanischen Dichter gesagt. Ich bin gerade erst zum dritten Mal hier und spaziere mit Esther im Sonnenschein durch die engen Gassen aus Stein. Esther wohnt selbst in der Altstadt und kennt in Pals wirklich jeden Stein. Und sie nimmt sich heute die Zeit, um mir ihr Dorf zu zeigen.
Kleine Engel beschützen die Fenster. Geflochtene Kreuze aus Palmenzweigen hängen an den Türen oder sind manchmal auch einfach nur in die Mauer geritzt. An den Dachtraufen fallen mir viele Dreiecke und fast schon kindliche Zeichnungen von Sonne, Mond, Löwen, Hähnen und anderen Mustern auf. Esther erklärt mir auch gleich, was all diese Symbole bedeuten. Damit keine bösen Geister, keine Hexen und Dämonen die Familie heimsuchen, schützten sich die Einwohner eben so gut sie konnten. Die meisten dieser Zeichen sollen also böse Geister fernhalten. „Natürlich wußten die Leute damals noch nicht, was wir heute wissen“ meint Esther. „Die hygienischen Bedingungen waren furchtbar. Es gab weder eine moderne Medizin, wie wir sie heute haben, noch wusste man, woher die Krankheiten überhaupt kamen.“
Fäkalien liefen in Abwasserrinnen durch das Dorf und verschmutzen auch schon mal das Grundwasser. Die Tiere lebten zum Teil noch mit den Menschen unter einem Dach und übertrugen Krankheitskeime. „Aber die Leute waren natürlich auch nicht doof“ sagt Esther und zeigt auf ein paar Schwalben, die sich ein Nest bauen. „Natürlich ist ihnen aufgefallen, dass manche Häuser wesentlich seltener oder gar nicht von Krankheiten wie Malaria oder Diphtherie heimgesucht wurden. Da an diesen Häusern viele Vogel nisteten, dachten sie, die Vögel seien für den Schutz vor Krankheiten verantwortlich. In gewisser Weise stimmte das ja auch, denn viele Vögel fressen viele Mücken!“ Und so versuchte man die Vögel anzulocken, in dem man ihnen den Nestbau erleichterte. Töpfe und andere tönerne Behältnisse wurden nahe der Fenster in die Mauern gebaut, damit die Schwalben hier nisten sollten.
„Und die Zacken unter dem Dachfirst?“ frage ich, neugierig geworden. „Ist das Dekoration oder haben die auch eine Bedeutung?“ Die Dreiecke nennt man Wolfs- oder Löwenzähne. Auch das sind Symbole, die das Eindringen der Hexen und Dämonen verhindern sollten, erfahre ich jetzt. Die Menschen glaubten ja, dass die Krankheiten von bösen Geistern stammten, die nachts in ihre Häuser kamen. Daher beteten sie besonders vor dem Schlafengehen, aber auch wenn jemand krank war. Oder eben einfach prophylaktisch.
Im ganzen Dorf blühen jetzt im Juni die Bougainvillia. Lila und rosa Farbtupfer im Gewirr der steinernen Gassen aus dem Mittelalter. Wir gehen von der Plaça Major in Richtung Kirche. Viele der kleinen Läden, die Andenken verkaufen, sehen von innen aus wie Höhlen, denn früher hat man die Häuser direkt in den Felsen geschlagen.
Esther zeigt auf eine steinerne Mulde. Es ist ein anthropomorphes Grab aus der Zeit der westgotischen Besiedlung. Die Westgoten beherrschten die iberische Halbinsel lange bevor die Mauren sie vom Süden her eroberten und Karl der Große im Norden die Spanische Mark einrichtete. Das Grab, eine Mulde in Menschenform, direkt in den Stein gehauen, muss also aus dem ganz frühen Mittelalter stammen. Unter den Häusern von Pals befinden sich anscheinend noch mehr dieser Gräber, denn die Menschen haben im Laufe der Jahrhunderte immer wieder übereinander gebaut und oft alte Steine und vorhandene Strukturen zum Bau neuer Gebäude genutzt.
Bis wir an der Kirche ankommen, hat Esther mir einen Türklopfer in Form eines Drachen, noch ein paar Löwenzähne und verschiedene Einkerbungen an den Hauseingängen gezeigt. Die Kerben stammen übrigens tatsächlich vom Schleifen der Messer, Schwerter oder anderer Handwerksdinge. Offenbar verließ man das Haus damals nicht, ohne noch mal schnell sein Messer zu schleifen …
Mit viel Mühe und Aufwand haben die Einwohner von Pals in den sechziger und siebziger Jahren ihr Dorf restauriert. Auf alten Fotos aus den Fünfziger Jahren und aus Zeiten kurz nach dem Spanischen Bürgerkrieg, die Esther mir zeigt, kann ich dieselben Häuser und Straßen erkennen, nur wesentlich ärmer und heruntergekommener. Früher waren die Leute auf dem Land sehr arm, es war hart von der Landwirtschaft zu leben. Um die Häuser geschniegelt und gestriegelt aussehen zu lassen, reichte das Geld einfach nicht. Erst mit dem Tourismusboom in den Siebzigern kam etwas Wohlstand in die Gegend. Plötzlich war es schick, in der Altstadt zu wohnen, und so wurden viele der halb verfallenen Gebäude liebevoll renoviert.
Mittlerweile sind wir auf dem Platz vor der Kirche angekommen. Bevor wir aber die Kirche betreten, macht mich Esther auf etwas aufmerksam: Die Schwelle, über die wir gleich unseren Fuß setzen werden, ist auf einer Seite total ausgetreten, so als ob die Menschen den rechten Eingang über Jahrhunderte hinweg bevorzugt hätten. „Im Mittelalter besuchten zwar Männer und Frauen gemeinsam den Gottesdienst, aber sie mussten durch getrennte Türen in die Kirche hereinkommen und auf getrennten Seiten sitzen. Rechts die Frauen, links die Männer.“ Ganz offensichtlich gab es wesentlich mehr Frauen, die regelmäßig zum Gottesdienst kamen. Vielleicht lag es daran, dass die Männer auf dem Feld arbeiten oder in der Schlacht kämpfen mussten. Sicher gab auch mehr Witwen als Witwer und die Kinder gingen bis zu einem gewissen Alter stets mit den Müttern in die Kirche.
Aber noch etwas fällt auf. Die ganze Eingangspforte wirkt fremd, sie ist aus einem anderen Stein gebaut, als der Rest der Fassade. „Das ist Pedra de Girona“ lerne ich von Esther. „Das Gestein erkennt man an den Nummuliten, diesen kleinen, im Stein eingeschlossenen Fossilien.“ Und tatsächlich entdecke ich kleine linsenförmige Muschelreste. Warum hat man denn nur so unterschiedliches Material für die barocke Pforte verwendet? Ob den Einwohnern einfach die Steine ausgegangen waren?
Über der Tür thront jedenfalls ein Papst, umgeben von zwei Säulen, die das alte und das neue Testament darstellen sollen. Auf den Säulen sind je sieben Kelche, wie sie bei festlichen Anlässen benutzt wurden, zu erkennen. Ein festlicher Anlass über der Kirchentür könnte natürlich das letzte Abendmahl sein. „Wie viele Gäste waren beim Abendmahl anwesend?“ fragt Esther mich plötzlich. Ich muss kurz überlegen, dann antworte ich „Zwölf Jünger und Christus, also dreizehn“, und bin ganz stolz, das Rätsel so schnell gelöst zu haben. „Aber wieso hat man dann nicht dreizehn Kelche dargestellt? Sechs auf jeder Seite und einen in der Mitte, für Jesus?“ Gute Frage. Vielleicht waren da ja doch vierzehn Menschen. Vielleicht war auch Maria Magdalena anwesend. Eine logische und sehr interessante Überlegung. Das ist ja hier fast wie im Film, voller Rätsel und Symbole. Sehr spannend!
Dann betreten wir über die ausgetretenen Stufen die Kirche. Hier ist es ziemlich dunkel. Meine Augen brauchen einen Moment, um sich an das wenige Licht, das durch die kleinen Fenster hereinfällt, zu gewöhnen. Von dem romanischen Grundbau aus dem zehnten Jahrhundert ist nur noch ein Teil erhalten. Zwei Kapellen auf der rechten Seite und ein Teil des Kirchenschiffs wurden irgendwann zerstört. Aber die Apsis baute man wieder auf. Dafür durften die Einwohner sogar die Steine der damals schon verfallenen Burg von Pals benutzen. So entstand eine schicke gotische Decke und die Überreste der Burg wurden, bis auf den heutigen Uhrenturm, in der Kirche recycelt. Daher mussten sie also für die barocke Pforte auf die Steine aus Girona zurückgreifen.
Ein etwas ungewohnter Anblick weckt meine Aufmerksamkeit. In einer kleinen Kapelle auf der linken Seite steht ein Getränkeautomat. Neugierig nähere ich mich, langsam und diskret, der Maschine. Doch statt Coca Cola kann man hier Kerzen ziehen. Statt einer Dose, aus der ein frisches, kühles Getränk herausspritzt, ziert eine andächtig blickende Madonna den Automaten. Irgendwie richtig schön.
Als wir wieder draußen im hellen Tageslicht stehen, gehen wir ein paar Stufen hinunter auf den kleinen Vorplatz der Kirche. Im Hintergrund kann ich das letzte Überbleibsel der alten Burg sehen, den Stundenturm, die Torre de les Hores. Im Mittelalter waren die Kirchenglocken fast so wichtig wie das Internet heute. Die Glocken benachrichtigten die Menschen, wenn jemand gestorben war, wenn ein Baby geboren wurde oder ein Paar geheiratet hatte. Die Leute wurden zum Gebet gerufen oder gewarnt, wenn ein Überfall auf die Stadt drohte. Und die Zeit sagten sie auch noch an.
Als man beschloss, den alten Kirchturm zu erneuern, mussten die Glocken umziehen und wurden auf den Burgturm gebracht. Seither sagt die Torre de les Hores den Einwohnern von Pals die Zeit an.
In dem groben, felsigen Grund, auf dem der massive Turm steht, sind tiefe Einkerbungen. Esther legt sich in eine dieser Mulden – die Arme wie eine Mumie gekreuzt – passt perfekt, wie angegossen! Das muss wohl auch eines dieser uralten, in Stein gehauenen Gräber der Westgoten gewesen sein!
Lachend steht Esther wieder auf und erzählt mir eine ganz besondere Geschichte. Direkt neben dem Turm sind die Reste einer verfallenen Mauer zu erkennen. „Genau hier stand einmal das Haus einer Hexe“, beginnt Esther die Erzählung. Aber natürlich lebte hier gar keine Hexe, sondern ein junges Mädchen, namens Maria, das mit dreizehn Jahren schwanger geworden und von seiner Familie verstoßen worden war. Ganz allein musste sie ihr Kind entbinden. Ihr kleiner Sohn war kränklich und litt unter Missbildungen. Maria kümmerte sich um das Kind und sorgte selbst für ihren Lebensunterhalt. So ging die Zeit eine Weile dahin. Im Gegensatz zu den Leuten im Dorf trank Maria aber nicht das Wasser aus dem Brunnen in Pals, sondern lief jeden Morgen weit hinunter zum Strand, um von einer frischen Quelle dort Wasser zu holen. Als wieder einmal eine Epidemie ausbrach, blieben Maria und ihr Kind verschont. Viele Einwohner baten Maria um Hilfe. Sie braute Kräutertees mit dem frischen Wasser, das sie selbst geholt hatte, und half, wo sie konnte. Wie undankbar doch die Menschen sind. Statt von ihr zu lernen, munkelte man bald sie sei eine Hexe und verfolgte sie. Es gab keine Anklage, keinen Prozess. Eine Gruppe pöbelnder Menschen lauerte ihr eines Morgens am Brunnen auf und erschlug sie. Noch heute heißt der Brunnen font de la bruixa (Hexenbrunnen) und der Stein, auf dem ihr Blut vergossen wurde ist noch immer als pedra de la bruixa (Hexenstein) bekannt.
Der kleine Platz am Ende des Dorfes nennt sich Mirador, ein Aussichtspunkt. Auch wenn man nicht besonders weit in die Landschaft sehen kann, weil ein paar hübsche, aber hohe Büsche davorstehen, ist der Platz an sich spannend. Ich glaube, hier, vor den Stadttoren, wurden früher Leute gehenkt. Wenn man ganz genau hinsieht, kann man erkennen, dass die uralten Bäume richtige Gesichter haben. Die könnten bestimmt viele Geschichten erzählen!
Infos – Pals zum Nachreisen:
Je nach Jahreszeit kann es in Pals schon mal voll werden. Besonders im Juli und August kommen die Touristen in Busladungen hierher. Mein Tipp: In diesen Monaten wirst Du Pals nicht wirklich genießen können. Falls Du aber nur im Sommer hier bist, dann rate ich Dir entweder sehr früh am Morgen, oder sehr spät am Abend zu kommen. Noch schöner ist es allerdings außerhalb der Hochsaison. Dann kannst Du wirklich in Ruhe bummeln und Dich auf die Spurensuche nach alten Zeichen und Symbolen machen.
Wenn Du in Pals bist, kann ich Dir nur raten, im El Pedrò eine kleine Pause einzulegen. Das Restaurant ist ein kleiner Familienbetrieb, die Leute stammen wirklich noch alle aus Pals und das Essen ist genial – super köstlich! Ich bestelle ein traditionelles Reisgericht, eine Art Eintopf aus Reis mit Tintenfisch und Garnelen. Es schmeckt wirklich unglaublich gut – obwohl ganz ehrlich gesagt, hätte ich nicht sagen können, was an dem Reis aus Pals nun besonders ist. Aber das werde ich noch herausfinden.
Restaurant El Pedrò
Carrer de les Placetes, 29
17256 Pals
Girona
Website: www.elpedropals.com
Und weil ich gar nicht aufhören konnte, zu knipsen kommen hier noch mehr Fotos aus Pals:
Hinweis: Das Restaurant habe ich bereits bei meinem zweiten Besuch in Pals, im Rahmen einer Veranstaltung der TBEX Costa Brava, besucht. Meine Meinung ist davon in keinster Weise beeinflusst und ist ausschließlich dem guten Essen und den netten Menschen dort geschuldet 🙂
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