Richtig abenteuerlich war unser Ausflug in den Norden Neapels zum Cimitero delle Fontanelle. Der Stadtteil Sanità ist gar nicht so einfach zu erreichen, jedenfalls nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln.
Zuerst geht es also ein Stückchen zu Fuß. Wir fragen einen Polizisten oder jedenfalls einen seriös aussehenden Herrn in Uniform. Der einzige Mensch hier weit und breit. Wir fragen nach dem Weg. Während wir die Karte aufschlagen, zeigt Laura mit dem Finger auf den Friedhof und sagt: „Da müssen wir hin“. Der uniformierte Herr guckt nur streng. Wie ein Lehrer, dem gerade ein nerviger Schüler auf den Keks geht. Nach einer gefühlten Ewigkeit des Guckens sagt er dann knapp und sehr streng ”perché?” Wie jetzt? Wieso wir da hin wollen? Na, weil wir den sehen wollen. Merkwürdig. Dann wird er aber zutraulicher. Wir dürfen halt nur keine Zwischenfragen stellen. Schließlich führt er uns über den Innenhof eines ziemlichen verlassen wirkenden Krankenhauses (da werden wirklich Menschen behandelt? Sieht aus wie ein Geisterhaus) zu der Straße, von der aus wir uns dann angeblich nicht mehr verlaufen können. Einfach rechts durch den Bogen, dann weiter geradeaus usw. Immerhin sind wir jetzt in der richtigen Richtung.
Als wir nach ein paar weiteren Straßen, wohl ziemlich verzweifelt aussehend, mit dem Stadtplan nach dem Weg suchen, bietet uns ein netter Busfahrer an, uns ein Stückchen mitzunehmen. Mit einer Navette, einem Kleinbus, der nur im einem bestimmten Rione hin und her fährt, geht es also weiter. Nachdem wir ca. fünf Minuten kreuz und quer durch das Viertel gurken, lässt er uns wieder raus. Nun habe ich völlig die Orientierung verloren.
Zunächst gibt es noch ein Schild, das auf den Friedhof hinweist. Dann kommt nichts mehr. Wir fragen uns durch. Wenn mir die Altstadt Neapels schon authentisch vorgekommen ist, dann ist das hier autenticissmo, wie der Italiener – vielleicht – sagen würde. Das Viertel wirkt sehr ärmlich, obwohl einige der Häuser, eindeutig mal richtig prächtige Paläste gewesen sein müssen. Jedenfalls den Innenhöfen nach zu urteilen, die man von der Straße aus sehen kann. Vor langer, langer Zeit, war hier oben nämlich noch alles Grün. Es war das Jagdrevier des Königs und lag außerhalb des alten Stadtzentrums. Jeder, der etwas auf sich hielt und dem König und seinem Jagdsitz auf dem Capodimonte nah sein wollte, baute hier ein elegantes Wohnhaus.
Nachdem wir einen Markt passiert haben, gibt es immer weniger Bars und Geschäfte, je weiter nördlich wir kommen. Die Wäsche wird nicht nur auf den Balkonen, sondern auch am Straßenrand getrocknet. Leider fängt es dann auch noch an zu regnen. Es ist schon irgendwie ein bisschen abenteuerlich. Touristen gibt es hier sowieso keine aber auch Neapolitaner lassen sich nur wenige auf den enger werdenden Straßen blicken. Nach zehn Minuten Fußmarsch stehen wir dann endlich davor, vor dem Cimitero delle Fontanelle. Wir haben sogar Glück. Er ist noch auf. Nachmittags schließt er nämlich schon um vier Uhr.
Und dann sind wir drin, in einer Höhle, die wie eine graue, dunkle Kirche wirkt. Überall sind Knochen. Tausende von Schädeln liegen sauber aufgereiht in den Nischen. An manchen Stellen stapeln sich auch lange Arm- oder Beinknochen. Wie auf einem Friedhof gibt es kleine Wege zwischen den aufgebahrten Schädeln und Knochen. Wenn man sich vom Hauptgang weiter nach rechts oder links bewegt, wird es allerdings immer dunkler. Nur sehr wenig Licht dringt aus ein oder zwei Löchern in der hohen Decke hinab in diese Halle der Toten.
Hier ruhen vor allem die sterblichen Überreste der Neapolitaner, die sich keine richtige Beerdigung leisten konnten. Aber auch die Pest, Cholera und andere Seuchen forderten unzählige Opfer, die hier hergebracht wurden. Bei einer großen Überschwemmung vor ein paar hundert Jahren sollen irgendwann sogar einige die Kadaver heraus auf die Straße geflutet worden sein. Zum Entsetzen der Anwohner, die befürchteten ein Angehöriger könne unter den schwimmenden Knochen sein.
Teilweise ist es schon fast ein bisschen gruselig. Wir biegen um eine Ecke und stehen vor einem Sarg. Der Deckel ist aus Glas aber so mit einer dicken Staubschicht bedeckt, dass man nicht sehen kann, was darin liegt. Irgendjemand der vor uns hier war, hat scheinbar versucht den Staub wegzuwischen, um in den Sarg hinein zu blicken. Ich fasse den Deckel lieber nicht an. Wegen Respekt vor den Toten und so. In einer anderen Nische steht eine dunkle Statue, die ich kaum erkennen kann, und reckt die Hände flehend nach oben, in Richtung eines der beiden Licht- und Luftlöcher. Sehr dramatisch sieht das aus.
Auf einem gläsernen Kindersarg liegen eine Puppe, kleine Ketten, Kinderspielzeug und ein paar längst vertrocknete Blumen. Es ist schon irgendwie sehr anrührend. Als Laura gerade eine Ecke mit einer Art Altar inspiziert, schscht mich der Aufpasser am Eingang zu sich. Was ist denn jetzt los? Hab ich was ausgefressen? Er lächelt mich aber freundlich an und wedelt mit einem Stück Papier. Es ist ein Zeitungsartikel oder vielleicht auch ein aus einem Buch kopierter Text in einer abgegriffenen Plastikhülle. Glücklich strahlend überreicht er mir den Bericht, der auf Italienisch die Geschichte des Friedhofs erklärt. Er scheint das extra gesucht zu haben und ist ganz stolz. „Italiano va bene?„, fragt er. In einer anderen Sprache gibt es den Text ja eh nicht. Also bedanke ich mich genauso freundlich und fange an zu lesen. Leider ist es so dunkel, dass ich nicht viel sehen kann. Als Laura zu mir kommt, gehen wir mit unserem Zettel weiter vorne zum Eingang, wo mehr Licht ist. Wir versuchen den Text zu fotografieren, denn anderes Informationsmaterial gibt es hier nicht. Hier gibt es eigentlich überhaupt nichts. Es ist ja auch ein Friedhof.
Zu dem ersten Aufpasser gesellt sich noch ein Zweiter dazu, genauso nett und fleißig bemüht, uns zu helfen. Sie nehmen Laura das Papier aus der Hand und versuchen es abwechselnd im besseren Licht zu positionieren, sodass sie ihr Foto machen kann. “Si no … cerchi nel computer”, rät er uns schließlich. Wir sollen im Internet suchen, meint er wohl. Für ihn ist das alles dasselbe, Computer, Internet und dieses ganze moderne Zeug halt.
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