Vom Manchester Kataloniens zum Soho Barcelonas, titelte Isaac Marrero Villamón bereits 2003 in einem kritischen Bericht (Scripta Nova*) der Universität Barcelona über den Plan 22@ zur Erneuerung des Stadtteils Poblenou.

poblenou architektur Barcelona

Heute, mehr als zehn Jahre später, ist Poblenou gleichzeitig ein altes und ein neues Viertel. Wo früher schmutzige Industrieschornsteine den Dreck in die Luft pusteten, siedeln sich immer mehr kleine Start-ups, Medien- und Hightechfirmen an. Bis in die siebziger Jahre hinein war dies hier ein sehr einfaches und eher ärmliches Viertel Barcelonas. Dann kamen die Olympischen Spiele 1992 – ganz Barcelona wurde städteplanerisch aufgeräumt. Mit dem Projekt 22@ begann man ganz bewusst, dem Viertel ein neues Gesicht zu geben. Viele der Einwohner standen dem neuen Plan sehr kritisch gegenüber und befürchteten eine Gentrifizierung. Einige der alten Industrieanlagen wurden von namhaften Architekten zu schicken Bürokomplexen umgestaltet. Auf anderen Grundstücken baute man komplett neue, moderne Gebäude.

alte Fabrikgebäude Poblenou Barcelona

Der Campus der Studiengänge für Medien- und Kommunikation der Universitat Pompeu Fabra zum Beispiel befindet sich auf dem Gelände der ehemaligen Textilfabrik Ca l’Aranyó. Im Stil der in Manchester üblichen Bauweise mit Backstein und Eisen wurde 1878 diese Anlage zur Wollproduktion im Poblenou errichtet. Die heutigen Universitätsgebäude verbinden die teilweise erhaltenen Fabrikhallen mit modernen Elementen.

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Pompeu Fabra Barcelona Universitat

Schornstein Pompeu Poblenou

Poblenou Barcelona Industriebauten

Aber auch ganz neue Bauwerke stellten die Stadtplaner zwischen die alten Ziegelbauten wie die Torre Agbar (gebaut 1999-2005) oder das Media TIC des Architekten Enrique Ruiz Geli, das 2010 eingeweiht wurde.

Torre Agbar Poblenou Barcelona

Die Torre Agbar ist weithin sichtbar und fast schon eines der Wahrzeichen Barcelonas geworden. Dabei kann man den Turm nicht einmal besichtigen. Er beherbergt ausschließlich Büroräume. Das Media TIC fällt vor allem wegen seiner merkwürdigen Außenhaut auf. Mit Luft gefüllte Plastikkissen regeln Licht und Temperatur des Gebäudes und lassen es ein wenig wie ein aufblasbares Kinderparadies wirken.

Media Tic Barcelona poblenou

Während in den Altstadtvierteln Barcelonas, dem Barri Gotic, Raval oder Born, wahre Touristenmassen durch die engen Gassen drängen, sind die Straßen im Poblenou fast menschenleer. Nur wenige Besucher verirren sich hier her, dabei ist die Rambla del Poblenou noch ein echter Treffpunkt der Anwohner, was man von den Ramblas, die von der Plaça Catalunya zum Hafen hinunterführen leider längst nicht mehr behaupten kann.

Hier hingegen treffen sich die Leute aus dem Viertel noch auf ein Schwätzchen, sitzen auf einer der vielen Bänke und gucken, wer so alles vorbeikommt. Ein Zuruf hier, ein Scherz dort, es ist eine sehr dörfliche Atmosphäre. Jeder kennt jeden. So kommt es mir jedenfalls vor. Während das Viertel zu Beginn des letzten Jahrhunderts dem Meer noch den Rücken zugewandt hatte, ist seitdem auch hier vieles anders geworden. Die Rambla öffnet sich zum Meer hin mit einem hellen, lichten Park und einem Blick auf den Horizont.

Fast direkt am Meer liegt auch der alte Friedhof, el Cementiri del Poblenou. Still ist es hier und ziemlich bunt. Wunderschöne Skulpturen und Grabdenkmäler, farbenfrohe Dekoration aus Plastikblumen und Kerzen zieren die letzte Ruhestätte der Toten.

todeskuss Friedhof Poblenou Barcelona

Wahrscheinlich kommen so wenige Touristen hier her, weil es in dem ehemaligen Arbeiterviertel nur sehr wenige modernistische Bauten gibt. Hier investierten die wohlhabenden Bürger nicht in prächtige Paläste. Es gibt keine Bauwerke von Gaudí zu bestaunen. Nur wer etwas genauer hinsieht, findet hier und dort ein paar vereinzelte Zeugen des katalanischen Jugendstils. Zum Beispiel an der Rambla Poblenou Nummer 102. Der Architekt Jaume Bayó baute hier zwischen 1906 und 1909 die Casa Serra. Jaumes Bruder Josep arbeitete damals für den berühmtesten der modernistischen Architekten, Antoní Gaudí.

Poblenou Barcelona Modernisme

Ungefähr auf der Hälfte der Rambla, an einem der abgerundeten Plätze, erhebt sich ein markantes Casino – früher ein Arbeitertreff, heute ein Theater und Restaurant. Genau gegenüber des Casinos befindet sich eine der ältesten und besten Orxaterias Barcelonas: El Tio Ché, Onkel Ché. Über hundert Jahre, seit 1912, schenkt die Familie des Gründers Alfons Iborra hier ihre selbst gemachte Erdmandelmilch aus, die im Sommer die Gaumen der Spanier erfreut. Bei Tio Ché gibt es Horchata (oder Orxata) das ganze Jahr über. Aber nicht nur die Mandelmilch wird selbst produziert. Es gibt auch Eis, Sorbets und viele andere leckere Sachen! El Tio Ché gehört ins Poblenou, wie keine andere Bar im Viertel. Der kleine Laden war früher schon der Treffpunkt der Anwohner und hat sich zum Glück bis heute gehalten.

Vieles hat sich verändert im Viertel. Das Poblenou ist sauberer und heller geworden. Aber es fehlen noch immer Schulen, Parks und kleine Läden. Das reklamieren jedenfalls die Leute, die hier leben. Statt noch mehr moderne Bauten und Medienfirmen, könnte man vielleicht einfach mehr Infrastruktur ins Viertel bringen.

El tio che Barcelona Poblenou

Horchateria El tio Che Barcelona Poblenou

Tio Che Orxateria poblenou Barcelona

Nützliche Infos:

*¿Del Manchester català al Soho Barcelonés? in Scripta Nova: Revista electrónica de geografía y ciencias sociales

El Pais – Artikel vom 12.03.2007 Poblenou, el experimento ciudadano

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