Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts machte sich eine Expedition von Barcelona aus auf den Weg in die Pyrenäen. Auf Mauleseln erreichten die Gruppe das Vall de Boí, denn Straßen gab es in dem schwer zugänglichen Gelände damals kaum. Mit von der Partie, die sich auf den beschwerlichen Weg in die Berge gemacht hatte, war Josep Puig i Cadafalch, neben Gaudí einer der bekanntesten modernistischen Architekten.
In Barcelona herrschte damals Aufbruchstimmung. Es war die Zeit des Modernisme, der Ausprägung des Jugendstils die hier in Barcelona eng mit einer romantischen Bewegung einherging, der katalanischen Renaixença. Die Katalanen erinnerten sich ihrer Wurzeln, restaurierten historische Bauten und Kunstwerke. Katalanische Kultur und Sprache erlebten einen neuen Höhepunkt. Vor diesem Hintergrund schickte also das Institut d’Estudis Catalans eine Expedition in die entlegensten Winkel Kataloniens, um eine Bestandsaufnahme des historischen Kulturerbes zu machen.
Das Vall de Boí besteht aus nur wenigen, kleinen Dörfern, die sich auf das rund 200 Quadratkilometer große Tal verteilen. Auch wenn hier nur siebenhundert Menschen leben, gibt es dafür aber gleich acht romanische Kirchen, die allesamt von der UNESCO zum Weltkulturerbe der Menschheit ernannt wurden.
Im ausgehenden Mittelalter herrschte die Familie Erill über das Vall de Boí. Die Freiherren von Erill waren reich und mächtig. Unter König Alfons von Aragón kämpften sie gegen die Mauren, die damals den südlichen Teil der Iberischen Halbinsel beherrschten. Einen Großteil der Beute aus den blutigen Schlachten steckten die Herren von Erill in den Bau neuer Kirchen. Zum Teil wohl, um Buße für die im Krieg begangenen Gräueltaten zu tun, zum anderen aber auch, um den Einwohnern des Tals ihre Macht und Größe zu zeigen. Es war die Zeit der feudalistischen Herrscher. Die Landbesitzer regierten oft unbarmherzig und grausam. Die Bauern in den kleinen Bergdörfern waren quasi Leibeigene und lebten mehr schlecht als recht von dem, was ihrer Hände Arbeit ihnen einbrachte.
Als nach einigen Jahrhunderten der Stern der Erills unterging und andere Fürsten, Grafen und Bischöfe die Herrschaft über das kleine Tal übernahmen, investierte niemand mehr in den Erhalt der Kirchen, weit ab von den Zentren der Macht. Den Einwohnern, einfachen Bauern, fehlten schlichtweg die notwendigen Mittel für Modernisierungen. Im Grunde genommen ist es der Armut der Menschen in diesem abgelegenen Winkel Kataloniens zu verdanken, dass die romanischen Kirchen mit den wunderschönen Malereien von den unterschiedlichen Kunststilen über Jahrhunderte hinweg verschont wurden. Nur so kam es, dass die Expedition aus Barcelona diese von der Welt längst vergessenen, romanischen Bauten noch in ihrer ursprünglichen Bauart vorfinden konnte.
Santa Eulàlia d’Erill la Vall
Die erste dieser alten Kirchen, die ich auf meiner Reise durch das Tal besuche, ist Santa Eulàlia in Erill la Vall. Direkt neben der kleinen Steinkirche liegt ein Friedhof, ringsherum sammeln sich ein paar alte Häuser, mehr gibt es hier nicht. Teresa vom Centre Romànic öffnet die alte Holztür und fast schon andächtig betreten wir das fast tausend Jahre alte Gebäude.
Teresa meint, ich müsse mir die schlichten Steinwände kunterbunt bemalt vorstellen. Im ausgehenden Mittelalter galt es als unschön, als ein Zeichen von Armut, wenn der bloße Stein zu sehen war. Wer irgendwie konnte, bemalte also sein Haus und auch die Kirche. Die Wandmalereien im Gotteshaus hatten jedoch nicht nur eine dekorative, sondern auch eine aufklärerische Bedeutung. Sie sollten den Menschen, die ja oft weder lesen noch schreiben konnten, die Geschichte der Bibel erklären und ihnen moralische Anleitung für den Alltag geben.
Vor uns über dem Altar hängt eine Figurengruppe aus Holz. Sie stellt die Kreuzabnahme dar. Teresa weist mich darauf hin, dass dies natürlich eine Nachbildung sei. Die Originale befinden sich heute in verschiedenen Museen.
„Diese kleinen romanischen Kirchen hatten nicht nur eine liturgische Funktion“, erklärt Teresa. „Hier versammelten sich die Dorfbewohner auch, um weltliche Angelegenheiten zu regeln, um wertvolle Dinge zu lagern oder um Schutz zu suchen.“ Die hohen Glockentürme hatten ebenfalls mehrere Aufgaben. Einerseits waren sie so etwas wie eine mittelalterliche Zeitansage und riefen die Gläubigen zur Messe, andererseits konnte man mithilfe der Türme schnell wichtige Nachrichten verbreiten. Die Kirchtürme waren also gleichzeitig Wachtürme und dienten auch der Kommunikation der Dörfer untereinander.
Sant Joan de Boí
Wie schon die Kirche in Erill de Vall ist auch Sant Joan de Boí im lombardischen Stil gebaut. „Die kleinen Gotteshäuser hier im Tal sind alle ungefähr zur selben Zeit entstanden, nämlich zwischen dem elften und dem zwölften Jahrhundert“, berichtet Teresa. Vermutlich hatten sich die Feudalherren bei einer Reise nach Rom von den Bauten in der Lombardei inspirieren lassen. Möglicherweise haben sie sogar die Künstler gleich aus Italien mitgebracht.
Sant Joan ist eine der frühesten romanischen Kirchen in den Pyrenäen. Ihre eckigen Säulen sind sehr kräftig gebaut und wirken robust. An den Wänden gibt es nur hier und da nachgebildete Bruchstücke der einstigen Malereien zu sehen. Die Originale, die einst die Kirche zierten, wurden nach der Entdeckung durch die Expedition Anfang des letzten Jahrhunderts, nach Barcelona gebracht. Mit einer aufwendigen Strappo Technik trug man die Malereien ab und transportierte sie sorgsam in Kisten verpackt auf Mauleseln nach Barcelona.
Eigentlich schade, denn nun sind die Wände leer. Im Museum kommen diese alten Schätze sicher gar nicht so gut zur Wirkung. Aber Teresa erläutert ganz ausführlich, warum die Bilder damals nach Barcelona gebracht wurden. Das Problem war nämlich, dass es Anfang des letzten Jahrhunderts keinerlei Gesetze zum Schutz alter Kunstwerke gab.
Die Menschen in den Dörfern maßen den Malereien keinen Wert bei. Sie fanden die Bilder alt und hässlich und hatten sie teilweise hinter weißer Farbe versteckt. Nachdem eine Kirche wertvolle Fresken nach Boston in die USA verkauft hatte, entschloss man sich zu handeln. Es galt, die historischen Kunstschätze zu finden und ihren Ausverkauf zu verhindern.
Wandmalereien in Sant Joan de Boí (Symbole siehe unten*)
Die romanischen Kirchen waren oft wie eine biblische Bildergeschichte zu lesen. Die Kirchgänger sollten moralische Handlungsanweisungen für ihren Alltag finden. Relativ exotische Tiere wie Elefanten oder Löwen, die ein Maler in den Pyrenäen nie selbst gesehen hatte, sind oft nicht gleich zu erkennen. Da waren die Künstler auf ihre Fantasie angewiesen.
Santa Maria de Taüll
Taüll ist so etwas wie der Superstar unter den Dörfern des Vall de Boí. Der kleine Ort hat gleich drei romanische Kirchen nämlich Sant Climent, Santa Maria und Sant Joan.
Santa Maria befindet sich im oberen Teil von Taüll. In den siebziger Jahren wurde die Kirche restauriert und die vor fast hundert Jahren so sorgfältig abgetragenen Wandbilder wurden nachgebildet. Strahlend leuchtet daher heute die Muttergottes von der Apsis herunter. Langsam kann ich erahnen, wie die Menschen früher die originalen Wandmalereien erlebt haben müssen.
Nachbildung der Malereien in Santa Maria de Taüll
Original im MNAC Barcelona
Sant Climent de Taüll
Aber das eigentliche Highlight ist Sant Climent. Allein der Innenraum der Kirche ist schon wesentlich feiner und eleganter gebaut, als zum Beispiel Sant Joan de Boí. Die Säulen sind hier rund, sie sind schmaler und wesentlich höher. Wir nehmen auf einer leeren Kirchenbank Platz. Die Wände sind mehr oder weniger weiß. Nur noch schattenartige Umrisse lassen erahnen, wo sich einst die Bilder von Christus dem Weltenherrscher, den Aposteln und den anderen Heiligen befunden haben müssen.
Teresa erzählt, dass bei einer Restaurierung in den sechziger Jahren, genau wie in der Kirche Santa Maria de Taüll, die Bilder in der Apsis nachgebildet wurden. 2001 entdeckte man durch Zufall eine bis dahin versteckt gebliebene Originalszene, die Kain und Abel darstellt. Diese Szene wurde in der Kirche belassen und ist relativ gut von hier unten aus zu erkennen. 2013 entschloss man sich jedoch, die Restaurierung aus den sechziger Jahren rückgängig zu machen und entfernte die Nachbildungen wieder.
Während ich überlege, wie ich mir die Wirkung der bunten Bilder wohl am besten vorstellen kann, geht das Licht aus. Vor meinen Augen entstehen die tausend Jahre alten Malereien an der Wand der Apsis! Gebannt sehe ich zu, wie der Christus leuchtet, umgeben von Heiligen und Aposteln. Es sieht unglaublich schön aus und wirkt total echt.
Fast zehn Minuten lang wandert das Licht durch die Apsis und zeigt die längst vergangene Schönheit dieser Kirche. Ich bestaune die Engel, Seraphim und Cherubinen, die Jungfrau Maria und all die anderen Figuren. Teresa erklärt uns ganz genau, welchen Stellenwert eine Figur hat, je nachdem ob sie rechts oder links von Christus steht, und auch was die vielen Symbole darstellen. Jedes Detail ist genau geplant und hat eine ganz bestimmte Bedeutung. Nichts ist dem Zufall überlassen. Die alten Meister von Taüll haben wirklich Beeindruckendes hinterlassen. Ich bin jedenfalls total verzaubert von den alten Bildern und finde die Idee des Mappings hier in der Kirche genial.
Eremita Sant Quirç de Durro
Zum Schluss unserer kleinen Fahrt durch die Dörfer des Tals besuchen wir noch die Eremita Sant Quirç und werfen einen Blick auf das Tal. Das Vall de Boí liegt friedlich vor uns und sieht von hier oben noch viel kleiner aus. Fast zerbrechlich wirkt es zwischen den mächtigen Bergen der Pyrenäen.
Infos zu den romanischen Kirchen im Vall de Boí:
In Erill la Vall gibt es ein Zentrum, in dem die Geschichte der Kirchen super erklärt wird. Eine überdimensionierte Bibliothek, in der man herumlaufen kann, kleine Filme und Fotos ansehen, oder Schubladen aufziehen. Echt schön gemacht!
Centre del Romànic de la Vall de Boí
C/ del Batalló 5
25528 Erill la Vall
Website: www.centreromanic.com
Eintritt: 2 Euro
*Erläuterung einiger Symbole in romanischen Kirchen:
Die Tiere:
Der Hahn über dem ehemaligen Haupteingang ist deutlich zu erkennen. Er erinnert daran, dass jeden Morgen ein neuer Tag anbricht. Er ist ein Symbol der Auferstehung und der Vergebung der Sünden. Das halb kniende Dromedar an der Seite der Pforte sollte die Gläubigen daran erinnern, bescheiden und gehorsam zu sein.
Die Gaukler:
Die Wand an der Nordseite soll die himmlische Stadt, Jerusalem, zeigen. Musiker und Gaukler tanzen und feiern. Damit sollte den Kirchgängern vermittelt werden, dass im Himmel Frohsinn und Lebensfreude herrschen, dass sie dort glücklich sein werden.
Der Sünder:
An einer der Säulen ist ein „unsittliches“ Bild zu sehen. Ein Mann mit Krücke fasst sich mit der Hand ziemlich eindeutig an sein Geschlecht. Das körperliche Gebrechen und sein obszönes Verhalten sollen angeblich seine moralischen Defekte darstellen.
Dieser Artikel entstand im Rahmen eines Blogtrips, zu dem wir vom Patronat de Turisme de la Vall de Boí und dem Patronat de Turisme de Lleida eingeladen worden sind.
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