Unwirtlich ist wohl das passende Wort, um diese trostlose Ebene zu beschreiben. Es ist unangenehm kalt, heftiger Wind weht mir um die Ohren. Es ist die Tramontane, ein Fallwind, der hier ungehindert zwischen den zerfallenen Mauern aus Beton hindurch pfeift. Die Gedenkstätte von Rivesaltes erstreckt sich auf einer weiten, fast schon gespenstisch leer wirkenden Fläche hinter einem Industriegebiet. Dieses Mémorial hat man genau an der Stelle errichtet, an der über lange Zeit Tausende Menschen unter erbärmlichen Bedingungen weggesperrt wurden, weit weg von allem, im Nirgendwo.
Als ich mich vom Parkplatz aus nähere, kann ich zunächst nur die halb zerfallenen Baracken auf weiter Flur erkennen. Von einem Museum ist nichts zu sehen. Es ist natürlich Absicht, dass das in seiner brutalen Schlichtheit fast unsichtbare Gebäude im Erdboden verschwindet. Es soll gar nicht von der erschütternden Wirkung der zerfallenen Betonhütten ablenken. Gänzlich ungeschönt konzentriert sich die Gedenkstätte so auf den Ort des Geschehens und zeigt das Lager in seiner trostlosen, unverblümten Kahlheit.
Bürgerkriegsflüchtlinge, Juden und Roma
Gegen Ende des Spanischen Bürgerkriegs machten sich im Januar 1939 Zehntausende auf den Weg nach Frankreich. Insgesamt 500 000 Menschen versuchten, sich vor den heranrückenden Truppen Francos in Sicherheit zu bringen. Es waren so viele, die sich zu Fuß auf den Weg gemacht hatten, um vor den nationalistischen Umstürzlern zu fliehen, dass die französische Regierung auf diesen Ansturm nicht vorbereitet war. Vermutlich hatte man damit gerechnet, dass die republikanischen Truppen noch länger Widerstand leisten würden.
Doch nun war die letzte Schlacht verloren und mitten im eisigen Winter, schleppte sich ein endloser Strom hungriger und von den harten Jahren des Bürgerkriegs geschwächter Flüchtlinge auf die andere Seite der Pyrenäen. Nicht wissend, ob sie ihre Freunde, ihr Haus, ihre Familie jemals wieder sehen würden, mussten sie der Heimat den Rücken kehren, um ihr Leben zu retten. In der Nähe der Grenze nahmen Polizisten und Wucherer den wehrlosen Flüchtlingen oft noch die letzten Wertgegenstände ab.
Sobald sie die Grenze überschritten hatten, empfing man diese Menschen jedoch nicht etwa mit einem warmen Teller Suppe. Man verfrachtete sie in simpelste Lager am Strand. Ein Zaun aus Stacheldraht – fertig. Im nackten Sand, ohne ein Dach über dem Kopf, ohne Matratzen oder wärmende Decken, überließ man die geschwächten Männer, Frauen und Kinder mehr oder weniger ihrem Schicksal. Argelès war das Erste dieser Konzentrationslager. Erst später organisierte man irgendwann ein paar Zelte, noch später spärliche Holzverschläge.
Als kostenlose Arbeitskräfte ließ man die spanischen Flüchtlinge dann in Rivesaltes ein Lager für das Militär errichten: das Camp Joffre.
Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges reichte der Platz in den primitiven Auffanglagern am Strand schon lange nicht mehr aus. 1941 funktionierte man das Militärlager Joffre daher zu einem „Unterbringungszentrum für Familien“ um. Nun brachte man neben den geflüchteten Kommunisten und Republikanern aus dem benachbarten Spanien, auch Juden und Roma aus Osteuropa hier unter.
Für über 2 000 jüdische Gefangene führte der Weg von hier aus in die Vernichtungslager nach Auschwitz.
Noch bis 1944 nutzte die Gestapo Rivesaltes als Sammellager. Nach Kriegsende wurde es von den Alliierten als Kriegsgefangenenlager genutzt. Nun wurden die Kollaborateure genau dort festgehalten, wo sie vorher ihre Opfer eingepfercht hatten.
Les Harkis
In den 60er Jahren fanden die auf über 600 Hektar verteilten Betonhütten eine neue Verwendung. Algerien hatte, wie die meisten der ehemaligen Kolonien Frankreichs, seine Unabhängigkeit erkämpft. Nun suchte man einen Ort, um die vielen Algerier, die aufseiten der Franzosen gestanden hatten, unterzubringen. Im befreiten Algerien konnten die Gehilfen der französischen Armee nicht bleiben. Dort drohten ihnen brutale Übergriffe und oft auch der Tod. Genaue Zahlen gibt es kaum, doch man geht von Tausenden Fällen aus, in denen an diesen Algeriern, den Harkis, Rache für die Zusammenarbeit mit den Franzosen geübt wurde.
Aber auch in Frankreich waren die Harkis nicht willkommen. De Gaulle hatte sich lange geweigert, sie überhaupt aufzunehmen. Schließlich wurden rund 22 000 dieser Hilfssoldaten und ihre Familien in den ehemaligen Gefangenenlagern von Rivesaltes untergebracht. Für die Umsiedlung in normale Wohnungen ließ man sich bis in die 70er Jahre Zeit. Erst danach hatten die Baracken endlich ausgedient.
Die Gedenkstätte Rivesaltes
Ein paar Jahre lang verfiel die Anlage langsam. Ein Lost Place, in der die Jugendlichen der Gegend sich austobten. Nicht wenige Bewohner der umliegenden Dörfer hätten diesen Schandfleck am liebsten beseitigt, erzählt Françoise, die Direktorin von Rivesaltes. Eine gewisse Scham und den Wunsch nach Verdrängung gäbe es teilweise noch heute.
Doch zum Glück entschied man sich anders. Statt die Hütten dem Erdboden gleich zu machen, eröffnete man 2015 eine Gedenkstätte. Das renommierte Architekturbüro um den Italiener Rudy Ricciotti, von dem auch der Entwurf des MUCEM in Marseille stammt, errichtete diesen gleichzeitig rücksichtsvollen und dennoch schonungslosen Bau.
Beton, Holz und Glas – nur wenige, grundlegende Materialien wurden zum Bau der Gedenkstätte verwendet. Um den Eingang zu erreichen, muss man eine lange Rampe hinab in die Tiefe schreiten. Auch in die Ausstellungsräume im Inneren gelangt man durch einen langen, beklemmend wirkenden Tunnel. Dennoch ist das Mémorial in Rivesaltes alles andere als dunkel und unfreundlich. Viel Licht fällt in die Eingangshalle und den Innenhof. Ein Gebäude, das sich zurücknimmt, das nicht die ärmlichen Hütten mit modernem Glanz überstrahlen will, sondern hinter ihnen, beziehungsweise unter sie zurückweicht. Das Museum schafft Platz für die eigentlichen Protagonisten und wird zu einer Plattform der Erinnerungen.
Françoise Roux leitet die Gedenkstätte mit Leidenschaft und sehr viel Umsicht. Es ist ihr wichtig zu betonen, dass Rivesaltes zwei sehr wichtige Funktionen hat. Einerseits ist es eine Hommage an all die Unerwünschten, die „Indésirables“, die hier weggesperrt wurden. Eine respektvolle Erinnerung an das Schicksal dieser Menschen. Andererseits ist Rivesaltes aber auch ein Ort, der uns immer wieder zum Nachdenken anregen kann und soll. Gerade heute ist es vielleicht wichtiger denn je, die Fehler der Vergangenheit zu erkennen und endlich aus ihnen zu lernen.
Infos zur Gedenkstätte Rivesaltes:
Noch bis Mai widmet sich die Zeitausstellung „Mémoire Rom“ den weit über 1 000 Sinti und Roma, Männer, Frauen und Kinder, die hier interniert wurden.
Video Tipp zum Thema „Retirada“ (auf Französisch) La retirada expliquée par l’historien Denis Peschanski
Lesetipp: Hilkes Artikel über das Mémorial auf Mein Frankreich
Hier im Blog mehr über den Spanischen Bürgerkrieg: Museu de l’exili La Jonquera
Mémorial du Camp de Rivesaltes
Avenue Christian Bourquin
66 600 Salses-le-Château
Website: www.memorialcamprivesaltes.eu
für das GPS (besser zu finden): Avenue Clément Ader, 66600 Rivesaltes
Öffnungszeiten Rivesaltes:
April bis Oktober Mo-So täglich, von 10 Uhr bis 18 Uhr
November bis März Di-So von 10 Uhr bis 18 Uhr
Letzter Einlass ist 16.45 Uhr
Eintritt:
Der Besuch der oberirdischen Anlage, ohne die Ausstellung im Mémorial, ist kostenlos.
Außenanlage inklusive Ausstellungsräume und Audioguide: 8 Euro für Erwachsene
Ermässigter Eintritt für Studenten beträgt 5 Euro, Kinder unter 18 Jahre Eintritt frei
Dieser Artikel entstand im Rahmen eines Blogtrips, zu dem ich von Tourisme Occitanie eingeladen wurde.
[…] Nicole Biarnes lebt in Katalonien und hat im Pays Catalan ebenfalls die Spuren von Vertreibung und Flucht, Lagerleben und Erinnerungsarbeit aufgespürt. Rivesaltes habe ich gemeinsam mit ihr und ihrem Mann besucht. Beide bloggen auf Freibeuterreisen. Lest ihre Infos und Impressionen zum Lager von Rivesaltes hier. […]