Das blaue Wasser glitzert im Sonnenschein. Weiße Wolken treiben ohne Hast am Himmel vorbei. Ein wunderschöner Tag in dem kleinen Küstenort Santa Maria al Bagno. Friedliche Ruhe strahlt mir bei unserem Spaziergang durch den Ort entgegen, fast schon paradiesisch. Ich kann mir gut vorstellen hier ein paar Tage abzuschalten, einfach die Seele baumeln zu lassen. Vor einer der alten Villen treffe ich auf eine Schulklasse.
Die jungen Italiener sind hier, weil genau in diesen Tagen vor 75 Jahren das Konzentrationslager Auschwitz befreit wurde. Ein trauriger, aber sehr wichtiger Gedenktag, an dem viele Schüler Santa Maria al Bagno und das kleine Museum besuchen. Denn hierher, ins Salento, kamen viele der Juden, die die deutschen Vernichtungslager überlebt hatten. Wie haben die Menschen damals wohl ihre Ankunft hier erlebt, nachdem sie die Hölle auf Erden hinter sich hatten? Dieser heftige Gegensatz ist einfach so schwer vorstellbar.
Die Einwohner des Salento waren einfache Fischer und Bauern. Nach den schlimmen Kriegsjahren hatten sie selbst nicht viel zu essen, weder in Santa Maria al Bagno noch in den anderen Orten. Man lebte von dem, was im Garten wuchs oder im Meer schwamm. Nach ihrer Meinung fragte niemand, als die Alliierten hier 1943 gleich mehrere Zentren für im Krieg vertriebene und heimatlos gewordene Menschen einrichteten.
Doch die Menschen im Süden Italiens sind herzlich. Zum größten Teil nahm man die Flüchtlinge sehr freundlich auf. Zunächst kamen Slaven, dann Juden. Manche der älteren Einwohner des Salento erinnern sich noch an die schlimmen Hungerjahre. Dank der Juden und der Care Pakete, die die Amerikaner den Auffangzentren zukommen ließen, hatten auch viele der Einheimischen hier weniger Hunger zu leiden.
Gerade erst aus den Klauen der deutschen Konzentrationslager befreit, wussten viele der Neuankömmlinge nur zu gut, was es heißt, nichts zu essen zu haben. Bereitwillig teilten die Vertriebenen in den Zentren mit den Dorfbewohnern, was sie hatten. Oft wechselten weißes Mehl, Tabak, Konserven, Milchpulver oder Kaffee im Tausch gegen frisches Gemüse oder Obst den Besitzer.
Die Überlebenden der Konzentrationslager hatten unter der Naziherrschaft ihre Angehörigen verloren. Sie hatten mit ansehen müssen, wie Eltern, Kinder, Geschwister, Bekannte und Freunde gequält und getötet wurden. Ganze Familien waren ausgelöscht. Unvorstellbar grausam waren die Nationalsozialisten in ihrem Vernichtungswahn gewesen. Die befreiten Juden hatten meist nur ihr nacktes Leben, und das oft gerade noch eben so. Sie waren entwurzelt, entwürdigt, und entmenschlicht worden. Ohne irgendeinen Besitz, ohne ihre Familie, ohne Zuhause waren sie allein und heimatlos.
Doch als im Januar 1945 Auschwitz und im April Dachau durch die Alliierten befreit wurden, war der Zweite Weltkrieg noch nicht ganz vorbei. Wohin konnten all diese heimatlosen Menschen nun gehen? Den Staat Israel gab es im Sommer 1945 noch nicht. Die Überlebenden konnten und wollten nach der Befreiung nicht dort bleiben, wo sie so viel Leid und Hass erfahren hatten.
Den Süden Italiens hatten die alliierten Kräfte bereits 1943 erobert. Weit weg vom Zentrum Europas hatte der Krieg in Apulien weniger Schaden angerichtet. Und so entschieden die Alliierten hier im Salento Auffanglager für die vom Krieg entwurzelten Menschen einzurichten. Im warmen Klima des Südens sollten sie sich erholen und wieder zu Kräften kommen. Um diese Menschen unterzubringen, hatte man die prächtigen Villen der Küstenorte beschlagnahmt. Die Amerikaner und Engländer verwalteten und versorgten diese Flüchtlingszentren in Santa Maria di Leuca, Santa Cesarea Terme, Tricase und Santa Maria al Bagno.
Viele der Juden aus den befreiten Konzentrationslagern sammelten sich in diesen Lagern. Die meisten waren allein gekommen, fanden hier Freunde, gründeten eigene Familien und schmiedeten Pläne für eine neue Zukunft. Von hier aus ging es weiter nach Afrika, Amerika oder eben nach Palästina. Vermutlich sind auch einige der späteren Mitstreiter Golda Meirs durch diese Lager im Salento nach Jerusalem gekommen. Das vermutet jedenfalls die nette Dame, die uns durch das kleine Museum in Santa Maria al Bagno führt.
Museo Santa Maria Al Bagno
Immer wieder benutzt unser Guide das Wort Schoah, was im Hebräischen so viel heißt wie Unheil oder Verderben. In Israel soll der Begriff die offizielle Bezeichnung der Verfolgung und Ermordung der Juden durch die Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg sein. Das aus dem Englischen stammende Wort Holocaust bezeichnet wohl ursprünglich eine Art Opferung durch Feuer, was natürlich mit dem Geschehen damals gar nicht zusammen passt. Ein deutsches Wort für diese unsäglichen Geschehnisse kenne ich gar nicht. Vielleicht ist das, was in Deutschland damals Menschen mit Menschen gemacht haben, einfach zu unaussprechlich?
Santa Maria al Bagno bewahrt die Erinnerung an diese Zeit in zwei Räumen auf. Ein Saal besteht aus Fotos, die die Geschichten der Überlebenden erzählen. Meist sind auf den Bildern fröhliche Menschen am Strand zu sehen. So viel Zuversicht strahlt von den Wänden, dass man sich kaum vorstellen kann, welche unsäglichen Schicksale hinter den lächelnden Gesichtern verborgen sind.
Unser Guide erzählt uns die Geschichte des jungen Mädchens, das auf einer vergrößerten Postkarte zu sehen ist. Von deutschen Soldaten gefangen genommen, war sie bereits auf dem Weg in ein italienisches Konzentrationslager. Unterwegs sei dann das Benzin ausgegangen und der Transporter liegen geblieben. So konnte sie von einer Gruppe Italienern befreit werden und überlebte. Später ging sie nach Jerusalem, wo sie im hohen Alter von über 80 Jahren gestorben sei.
Der zweite Raum des kleinen Museums von Santa Maria al Bagno besteht aus drei sehr eindrücklichen Wandgemälden. Es sind einfache, aber klare Zeichnungen. Zvi Miller hielt vor 75 Jahren seine und die Sehnsüchte vieler anderer Juden auf dem Weg nach Palästina an der Wand fest. Diese Murales sind heute stille Zeugen des mühevollen Weges, den so viele Menschen in der Zeit zwischen 1943 und 1946 zurücklegten.
Als die Casetta Rossa, das Haus, in dem die Wandbilder entstanden sind, 2009 vom Verfall bedroht war, beschloss man endlich ein Museum zum Erhalt dieser Bilder einzurichten. Rechtzeitig konnten die Zeichnungen mit einer speziellen Technik von den Wänden entfernt, gerettet und restauriert werden. Die Bilder zeigen die Ankunft in den Displaced-People Zentren im Salento, die ersehnte Brücke vom Salento nach Jerusalem und die schwierige Ankunft in Palästina, das damals noch unter britischem Mandat stand.
Infos Santa Maria al Bagno
Außer dem Museum kann man bei einem Bummel durch den sehr hübschen kleinen Ort noch ein paar der alten Villen sehen, in denen die Juden damals eine vorübergehende Zuflucht gefunden hatten.
Museo della Memoria e dell’Accoglienza
Via Lungomare Alfonso Lamarmora
73050 Santa Maria al Bagno – Nardò
Eintritt: 6 Euro
Dank des Archivs, das zum Museum gehört und der freundlichen Hilfe der Mitarbeiter dort, finden immer wieder Anfragen aus aller Welt hier Spuren ihrer eigenen Familiengeschichte.
Interessante Artikel auf Italienisch und Englisch:
www.fondazioneterradotranto.it | www.dpcamps.org | www.postphotography.eu
Santa Cesarea Terme:
Auch in Santa Cesarea Terme gab es so ein DP Zentrum für die jüdischen Überlebenden des Zweiten Weltkriegs. In dem alten Gebäude mit Blick aufs Meer befand sich bis vor wenigen Jahren noch ein Café. Der Besitzer des „Porta d’Oriente“ (das Tor zum Orient) hatte erst durch einen Zufall die hebräischen Inschriften entdeckt und dann bei den alten Leuten im Dorf die Geschichte des Gebäudes in jener Zeit erfahren. Daraufhin hat er ein wenig recherchiert und Fotos von damals ausgestellt, die ähnlich wie das Museum in Santa Maria al Bagno, vom Leben der Juden im Salento erzählen.
Doch seit die kleine Bar aus Altersgründen geschlossen wurde, erinnern nur noch die hebräischen Buchstaben und eine kleinen Gedenktafel an die Juden, die hier eine vorübergehende Zuflucht fanden, ehe sie weiter reisten. Viel mehr ist in Santa Cesarea Terme leider nicht aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg erhalten geblieben. Aber vielleicht wird man sich eines Tages doch noch dieser Geschichten erinnern und die ehemalige Bar mit neuem Leben füllen.
Gebäude der ehemaligen Bar Porta d’Oriente
Via Roma 67
73020 Santa Cesarea Terme
Ganz vielen lieben Dank an Claudia, die mir ganz viel erzählt und mich erst auf dieses Thema gestossen hat!
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