Hinter der nächsten Kurve kommt das sechste Kreuz in Sicht. Der steile Aufstieg zum Santuari de Lord wird durch die zwölf Etappen der Via Crucis ein wenig erleichtert. Jedes Kreuz, das ich passiere, ist ein kleines Erfolgserlebnis. Und die Stationen folgen tatsächlich relativ schnell aufeinander. Nach zehn Minuten bin ich endlich oben. Die kleine Kapelle liegt am Rande des Felsplateaus. La Mola de Lord ist ein ziemlich steiler Berg, der wie ein Felsbrocken in der Landschaft liegt. Zu den Seiten fällt er steil ab, während er sich oben ziemlich ebenmäßig gibt.

Bis heute leben hier noch ein paar Mönche und Nonnen, angeblich streng getrennt voneinander. Über einen Seilzug können sie Lebensmittel oder andere Einkäufe vom Parkplatz unten hinauf transportieren.

santuari de lord

Die grüne Wiese vor der Kirche sieht frisch gemäht aus. Vermutlich das Werk der Schafe, die laut der aufgestellten Schilder hier herumlaufen sollen. Unter einem Baum lädt eine gemütliche Bank zum Verweilen ein. Ob die frommen Männer und Frauen sich hier zum Gebet hinsetzen, wenn gerade keine Wanderer unterwegs sind? Der Blick fällt auf die gegenüberliegenden Berge. Während der Napoleonischen Kriege, la Guerra del Frances, wurde die Felseninsel „El Capolatell de Busa“ als natürliches Gefängnis genutzt. Die gefangengenommenen Soldaten der napoleonischen Armee wurden dort festgesetzt, die steilen Klippen dienten als Begrenzuung des Lagers. Unten im Tal, dem Vall de Lord, liegen der Stausee und das kleine Dorf Sant Llorenç de Morunys.

kirche santuari de lord

Wir werfen nur einen kurzen Blick in die relativ moderne Kirche, dann machen Albert, mein Guide und ich machen uns auf den Weg nach unten. Schon im zehnten Jahrhundert soll hier oben eine Kapelle gestanden haben, aber während der Karlistenkriege war das Santuari de Lord ein wichtiger strategischer Punkt. Schwer umkämpft gewannen die Liberalen schließlich die blutige Auseinandersetzung, doch das alte Gebäude wurde dabei zerstört. Ein Kanonenrohr zeugt noch von dieser Schlacht. Danach brannte die neuerrichtete Kirche bei einem Blitzschlag nieder, sodass das Santuari abermals neu gebaut werden musste.

stausee blick vom santuari de lord

Auf dem Weg ins Tal folgen wir dieses Mal der Ausschilderung des Cami de Sant Jaume. Offenbar führt eine der vielen Abzweigungen des Jakobswegs hier entlang. Während die Strecke nahe an den Klippen entlang führt, kann ich mich gar nicht sattsehen, an dem türkisfarben leuchteten Wasser des Stausees unter uns, der sich wie ein dicker, blauer Drache durch das Vall de Lord schlängelt. In weiter Ferne flimmern die hohen Gipfel der Berge im Dunst der sommerlichen Hitze. Zum Glück erreichen wir bald ein bewaldetes Stück des Weges. Gegen Mittag wird es hier sicher unerträglich heiß werden. Doch dann sind wir längst wieder in Solsona. Wir marschieren an einem Aussichtspunkt vorbei, werfen noch einen letzten Blick auf den Stausee, dann erreichen wir auch schon den kleinen Parkplatz, von dem aus wir heute Morgen gestartet sind.

panta vall de lord

stausee blick vom santuari de lord vall de lord

Sant Llorenç de Moruny

Sant Llorenç de Moruny ist neben Solsona die einzige größere Ortschaft der Gegend und wirkt wesentlich belebter als Solsona. Das kleine Bergdorf ist die Ausgangsstation vieler Wanderer, Radfahrer und Kletterer, die von hier aus ihre Touren unternehmen. Durch eines der vier Stadttore betreten wir den kleinen Ort. Albert erzählt, dass die Frauen hier früher ein besonders dichtes, fast wasserdichtes Tuch gewebt haben, das drap piteu, für das sie weithin bekannt waren. Es muss eine Art Filz gewesen sein (wie bei den barets biarnés) vermute ich, denn den nutzen die Schäfer:innen bis heute gern gegen schlechtes Wetter. Die Piteu, so nennt man die Einwohner hier, konnten von diesem Stoff ein paar jahrhundertelang ziemlich gut leben.
sant llorenc de moruny

Mitten in einer der kleinen Gassen öffnet Albert eine Tür und wir stehen im Kreuzgang einer Klosterkirche. Diese kleine Anlage stammt ursprünglich aus dem 11. Jahrhundert und ist irgendwie zu einem Teil des Dorfes geworden. Besonders stolz ist man hier auf das reich mit Gold geschmückte barocke Retabel der Mare de Déu dels Colls und die restaurierte Orgel.

sant llorenc de moruny kloster

Olius

Mich beeindruckt jedoch eine ganz andere Kirche viel mehr. Kurz vor Olius steht eine einsame kleine Kirche am Wegesrand. Von außen wirkt sie hübsch, aber unscheinbar. Sant Esteve d‘Olius ist auf den ersten Blick eine romanische Kapelle, wie es sie in den Bergen viele gibt. Auch im Kirchenschiff ist zunächst nichts auffällig anders, bis ich die Krypta entdecke. Unter dem Altar führen ein paar Stufen in eine andere Zeit hinab. Ein Sammelsorium unterschiedlicher Steinsäulen und vermutlich recycelter Kapitelle trägt das kleine Gewölbe. Ich fühle mich wie in einer gemütlichen Höhle. Wandmalereien sind zwar nicht mehr erhalten, aber dieser wunderschöne kleine Raum unter der Kirche strahlt Geborgenheit und ein Gefühl der Gemeinschaft aus.

olius kirche Sant Esteve

krypta olius

olius krypta kirche Sant Esteve

Es fällt mir richtig schwer, mich von dieser Krypta loszureißen. Doch draußen wartet Albert schon mit der nächsten Überraschung. Nur wenige Schritte neben der Kirche liegt ein modernistischer Friedhof. Einfache, bescheidene Kreuze aus Stein und Eisen zieren die Grabstellen. Bernardí Martorell, ein Schüler und Bewunderer Antoni Gaudís, errichtete hier 1916 einen Friedhof, der die Gegebenheiten der Landschaft auf natürliche Weise nutzt. Die Gräber werden so zu einem Teil der Natur. Ein friedlicher, steinerner Garten, der ohne prunkvolle Pantheone auskommt, sondern die Felsen und Steine, die hier seit Jahrtausenden liegen, strahlen lässt.

olius cementeri modernista eingang

olius cementeri modernista

olius cementeri modernista
olius cementeri modernista
friedhof olius

Solsona

Solsona ist eine sehr alte Siedlung. Schon lange vor den Iberern, Römern, Westgoten und Mauren ließen sich Menschen hier nieder. Im Mittelalter unterhielt Solsona enge Beziehungen mit den Herrschern von Cardona und wurde sogar Bischofssitz. Genau genommen bestand die kleine Stadt damals aus zwei Teilen, nämlich dem, dessen Einwohner ihre Steuern an den Bischof zahlten und dem, dessen Bewohner ihre Abgaben an den Burgherren verpflichtet waren.

solsona
solsona

Als im ausgehenden 19. Jahrhundert die Industrialisierung Technik und Fortschritt in viele Städte Kataloniens brachte, lag Solsona weitab von den großen Straßen. Auch eine Zugverbindung gab es nicht. Die alten Gassen, die mittealtlerlichen Plätze und bürgerlichen Paläste konnten dafür jedoch unbeschadet die Zeit überstehen.

solsona
solsona

Direkt hinter dem alten Stadttor liegt die Kathedrale Santa Maria. Im Laufe der Jahrhunderte wurde die Kirche hinten zwar etwas schief erweitert, aber das macht das Gotteshaus in meinen Augen nur sympathischer (en beten scheif hett Gott leif – hat mein Opa immer gesagt). Albert zeigt mir die Statue der Schutzpatronin Solsonas, der Mare de Déu del Claustre, die Muttergottes des Kreuzgangs, und erklärt auch gleich diesen recht merkwürdigen Namen.

solsona kathedrale solsona kathedrale

Die für eine romanische Statue ungewöhnlich fein gearbeitete Madonna ist nicht aus Holz, sondern aus Stein. Sie blickt nicht stumpf geradeaus, sondern hält das Kind liebevoll und blickt in seine Richtung. Ihr Kleid schlägt Falten und zeigt feine Muster und am Knie lugt sogar ein Strumpfband hervor! Eine für ihre Zeit durchaus ungewöhnliche Statue also. Der Legende nach soll sie ursprünglich Teil einer Säule im Kreuzgang der Kirche gewesen sein. Als die Bewohner jedoch davon hörten, dass die Katharer aus Frankreich flohen und hierher auf dem Weg seien, versteckten sie ängstlich alle Kunstwerke, Statuen und Bilder vor den Fremden. Die steinerne Madonna war jedoch so schwer, dass die Männer sie einfach im Brunnen des Kreuzgangs versenkten.

Auf mysteriöse Weise starben kurz darauf alle, die das Versteck kannten. Niemand wusste mehr, wo die Madonna war, sodass sie lange Zeit als verschwunden galt. Erst viele Jahrhunderte später, soll ein Junge beim Ballspielen im Kreuzgang in den Brunnen gefallen sein. Als die überall suchenden Eltern ihr Kind schließlich fanden, rief der Kleine fröhlich aus dem Brunnen herauf, es ginge ihm gut. Dort unten sei eine liebe Frau, die ihn beschützte. So wurde die Madonnenstatue wiedergefunden und da sie das Kind auf wundersame Weise gerettet hatte, erhielt sie nun einen Ehrenplatz in einer Kapelle im Kirchenschiff.

solsona

solsona

Während wir durch die mittelalterlichen Gassen schlendern, erzählt Albert noch weitere Legenden, wie die von dem Esel, der auf einen Turm steigen sollte. Immer wieder blicken grimmige Fratzen von den Dachbalken herab. Die sollten offenbar die bösen Geister fernhalten. Vor dem Quarto dels Gegants, dem Zimmer der Riesen, befindet sich ein grüner Knopf neben einem Fenster. Ein kleines Mädchen drückt zuerst auf den Knopf und anschließend ihre Nase an der Scheibe platt. Drinnen sind die prachtvollen, riesengroßen Figuren aus Pappmaché zu sehen. Hier in Solsona sind sie besonders prächtig, weil der Erbauer der Gegants gleichzeitig Schneider ist und seinen fein gearbeiteten Figuren die eleganten Gewänder auf den Leib schneidert.

quarto de gegants solsona

solsona gegants

solsona gegants

Besonders schön bei der Hitze finde ich den pou de gel, einen Eisbrunnen, in den wir zum Abschluss noch hinabsteigen. Ehe es moderne Kühlschränke gab, musste richtiges Eis für Kühle sorgen. Das wurde in den Bergen „gewonnen“ und in unterirdischen Gewölben aufbewahrt. Eine echte Knochenarbeit.

pou de gel solsona

pou de gel solsona

Informationen

Tausend Dank an meinen Guide Albert, der mich den Berg hinauf motiviert, mir so viele wunderschöne Orte im Vall de Lord gezeigt und spannende Geschichten erzählt hat!
https://solsonaexperience.com/en/home

La Llosa del Cavall vall de lord
  stausee blick vom santuari de lord
Auf die Burg haben wir es bei diesem ersten Ausflug nach Solsona leider nicht mehr geschafft. Aber ich muss eh bald wiederkommen, um den Zoo del Pirineu, eine Tierpflege und Aufzuchtstation, die ich sehr gern besuchen würde, zu sehen und um mich in den Salzbecken von Sali de Cambrils auf dem Wasser treiben zu lassen. Vielleicht schaffe ich es, zum Carnaval de Solsona zurückzukommen, dann könnte ich gleich noch die Gegants de Carnaval in Aktion erleben. Ach und die spezielle Version der Espandrilles aus Solsona muss ich mir natürlich auch noch besorgen. Die soll es in einem kleinen Laden im Zentrum geben, der sie extra anfertigt.

espardenyes solsona