Ein wenig schief reihen sich die Fassaden der alten Bürgerhäuser am Rande der Plaça Major aneinander. Hübsch bunt leuchten sie farbenfroh in der hellen Sonne. Der große, zentrale Marktplatz in Vic ist erstaunlicherweise seit dem Mittelalter niemals zubetoniert worden. An heißen Sommertagen wird der sandige Boden mit Wasser bespritzt und strahlt wesentlich weniger Hitze ab, als die asphaltieren Gehwege ringsum.
Xavi stammt aus Vic, kennt und liebt seine Stadt und betreibt sogar eine eigene Fernsehsendung, in der er die zahlreichen Kirchtürme seiner Heimat und ihre Geschichte vorstellt. Wir bleiben heute allerdings am Boden und bummeln einfach nur gemeinsam durch die alten Gassen.
Aus dem ursprünglichen Namen Auso, den die Römer ihrer Siedlung gaben, entstand im Mittelalter die Bezeichnung vicus ausonensis (die Straße nach Auso) und daraus wiederum entstanden die Namen Vic für die heutige Stadt und Osona für die Region.
Dass die Gegend schon von Iberern und Römern besiedelt war, überrascht mich nicht weiter. Nach einer kurzen Episode, in der das Land um uns herum von den Soldaten des Kalifen von Córdoba erobert worden war, gehörte Vic zu den ersten Siedlungen, die die christlichen Eroberer neu errichteten, sobald sie die Mauren von hier zurückgedrängt hatten. Doch die mittelalterliche Stadt, die hier bald heranwuchs, bestand genau genommen aus zwei Teilen: einem Teil, der zur Burg gehörte, dem Castell dels Montcada, und einem anderen Teil, der dem Bischof gehörte. Die Menschen in diesen beiden Ortsteilen zahlten ihre Steuern also an unterschiedliche Herren und sie hatten verschiedene Markttage.
Erst als der Bischof irgendwann seine Anteile an den König verkaufte, wurde Vic auch verwaltungstechnisch geeint. Jaume II schenkte der geeinten Stadt auch gleich ein neues Wappen, das dem Barcelonas relativ ähnlich sieht. Nur die zwei Markttage behielten die Leute bei.
Die Händler suchten sich für den Verkauf ihren Waren einen großen freien Platz an der Kreuzung der Straßen, die nach Vic führten*. Im zwölften Jahrhundert befanden sich rings um die heutige Plaça Major zunächst eher einfache und bescheidene Werkstätten der Handwerker und Händler. Doch der große Markt lockte bald auch die wohlhabenderen Bürger an, die an der alten Straße entlang prachtvolle Häuser errichteten.
Xavi erzählt, dass die Erbauer der Paläste an der Plaça Major bestimmte Auflagen erfüllen mussten. Unter anderem mussten die Arkaden, die den gesamten Platz umgeben, hoch genug sein, dass ein Reiter auf seinem Pferd hindurchreiten konnte, ohne abzusteigen! Von Xavi erfahre ich auch, wie es kam, dass der Marktplatz ein Sandplatz ist. Bis zu Beginn des letzten Jahrhunderts fanden hier Correbous statt, das waren Volksfeste mit Stieren, bei denen die Tiere zwar nicht getötet, aber durch die Straßen getrieben wurden. Damit die laufenden Stiere nicht ausrutschten, musste der Platz aus Sand sein. Glücklicherweise wurden die Correbous abgeschafft und niemand kam auf die Idee, den Platz zu asphaltieren.
Unser kleiner Stadtbummel führt uns zu einem beeindruckenden Kirchturm im lombardischen Stil, dem Campanar einer romanischen Kirche, die Bischof Oliba 1038 einweihte. Von der alten Kathedrale ist außer dem Turm leider nichts erhalten geblieben, aber dem gelehrten Bischof, den viele als einen kulturellen Vater Kataloniens betrachten, wurde der Platz und eine moderne Statue gewidmet. Auch dank des Einflusses der damals fortgeschrittenen Lehren des arabischen Kulturkreises, trugen die Universität und das Klosterseminar in Vic dazu bei, nicht nur Wissen, sondern auch Wissenschaften wie Mathematik, Musik und Astronomie in ganz Europa zu verbreiten.
Hinter der Statue des belieben Bischofs Oliba erhebt sich ein überraschend modernes Gebäude. Das Museu Episcopal passt trotz seiner neuartigen Architektur hervorragend in die Umgebung. 2002 wurde das neue Gebäude extra konzipiert, um die wertvolle Sammlung romanischer Kunstschätze in ihrer ganzen Pracht und Schönheit erstrahlen zu lassen.
Ende des 19. Jahrhunderts hatte Bischof Morgades damit begonnen, kleine und große Kunstwerke aus den abgelegenen Dörfern aufzukaufen und eine Sammlung einzurichten. Viel zu oft wurden in den Gemeinden alte Kunstwerke verkauft, um ein kaputtes Kirchendach auszubessern oder eine Mauer zu erneuern. Oft lagen romanischen Madonnen oder alte Retabeln irgendwo versteckt in einer Ecke und den Dorfbewohnern waren sich ihrer Kulturschätze gar nicht bewusst. So manch eine Statue landete auf diese Weise auch in den Händen amerikanischer Millionäre, die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gern im alten Europa ein Gefühl von Geschichte kauften und alles mitnahmen, was sie erwerben konnten.
Um diesen Ausverkauf ihrer Kultur zu stoppen waren auch die Männer des Instituts d‘Estudis Catalans, zu denen Puig i Cadafalch zählte, in den Bergen unterwegs. Als sie das Vall de Boí erreichten, stießen sie nicht nur auf unglaubliche Wandmalereien, sondern auch auf eine seltene Darstellung der Kreuzabnahme aus dem zwölften Jahrhundert. Zu ihrem Leidwesen konnten sie die Kunstwerke nicht sofort mitnehmen, versuchten aber, sie schnellstmöglich durch den Bischof Morgades kaufen zu lassen, damit sie angemessen aufbewahrt werden konnten. Ehe jedoch die Verträge mit der kleinen Kirche Santa Eulàlia in Erill la Vall zustande kamen, waren die Figuren schon nicht mehr vollständig. Zwei Figuren hatte man anderweitig verkauft, ehe der Rest der Szene seinen Weg nach Vic fand.
Diese Figurengruppe vor sich stehen zu sehen, ist es schon sehr beeindruckend. Jede kleine Falte im Gewand der Soldaten, sogar den Gesichtsausdruck der beiden Diebe am Kreuz kann ich erkennen. Das Museum schafft es, die wertvollsten Stücke prachtvoll in Szene zu setzen. Hier wurde wirklich ein Museum um die Kunstwerke herum gebaut. So können selbst Leute wie ich, die nicht viel von Kunstgeschichte verstehen, die Wirkung verspüren, die diese Werke einst auf die Besucher der Dorfkirchen gehabt haben müssen, aus denen sie stammen. Bei unserem kurzen Besuch des Museums reicht die Zeit natürlich nicht, um alle Exponate ausführlich zu betrachten und so bestaunen wir nur ein paar ausgewählte Retabeln, Madonnen und Gemälde. Xavi ist ganz ergriffen, wenn er die Geschichte einiger Stücke erzählt und man merkt ihm an, wie sehr er dieses Museum und die zahllosen Geschichten, die es verbirgt, liebt.
Die mittelalterliche Stadtmauer verlief längs der Ringstraße, die die Altstadt von Vic heute umrundet. Unser Weg führt uns zu dem kleinen Fluss und einer alten Brücke. Hier befand sich im dreizehnten Jahrhundert einer der Eingänge in die Stadt. Über die Pont de Queralt führte die Straße zu einer Herberge neben der kleinen gotischen Kirche.
An den Ufern des Riu Mèder lebten und arbeiteten die Gerber, die auf das Wasser zur Herstellung der Felle angewiesen waren. Es muss bestialisch gestunken haben. Xavi erinnert sich, dass bis in die 80er Jahre das Wasser so schmutzig war, dass niemand daran schwimmen konnte. Heute leben Fische und sogar eine ausgesetzte Schildkröte in dem kleinen Fluss.
Zurück im Zentrum zeigt Xavi mir noch die Kathedrale. Die Fassade ist nicht außergewöhnlich, doch drinnen bin ich tatsächlich überrascht. Das riesige Kirchenschiff protzt nicht bunt und goldverziert, sondern ist fast bescheiden monochrom. In ungwohnt warmen Sepiatönen zieren die Bilder des katalanischen Künstlers Josep Maria Sert die Wände. Sert arbeitete zwischen 1926 und 1930 an der Dekoration der Kathedrale. Bei einem Brand 1936 zu Beginn des Spanischen Bürgerkriegs wurden die meisten Werke zerstört. Nur wenige Leinwände überlebten. Sert machte sich erneut an die Arbeit. Dieses Mal waren die Bilder anders, trauriger. Die neuen Darstellungen sind vom Leid der Kriege und dem Blutvergießen geprägt, das dieses Land so viele Jahre lang durchlitt. Menschen drängen sich auf den Bildern in rötlichem Braun und dunklen Ockertönen. Im Hintergrund einer Szene erscheinen zwei römische Soldaten, die die Helme deutscher Wehrmachtssoldaten tragen.
Ein paar der Gemälde, die aus der Zeit vor dem Spanischen Bürgerkrieg stammen, haben den Brand überlebt und sind zusammen mit den Gegants und dem zweiköpfigen Adler im Rathaus zu sehen. Von dem gotischen Hinterhof geht es über die „entrada noble“, einen Seiteneingang, in das Treppenhaus, wo die geretteten Fragmente der Leinwände ausgestellt werden.
Um den alten römischen Tempel herum entstand im 11. Jahrhundert eine Burg. Das Castell dels Moncada, die im Mittelalter über Vic herrschten. Doch von der alten Festung sind heute nur noch ein paar Mauerreste übrig. Steine und ganze Wände recycelte man im Laufe der Jahrhunderte einfach immer wieder. Auch wenn die Umbauten vieles zerstört haben, sind einige Bruchstücke so bis heute erhalten geblieben.
Neben dem römischen Tempel befindet sich eine ehemalige Kirche. Dort wo alles anfing, wo die erste Siedlung stand, und die Entwicklung der Stadt Vic ihren Anfang nahm, liegt vicpuntzero. In der Ausgrabungsstelle wird ein Panoramafilm gezeigt, der die Entstehung Vics in bunten und sehr bewegten Bildern zeigt. Sobald die Decke sich hebt, beginnt eine Zeitreise in die Bücherstube der Mönche und auf den mittelalterlichen Markt. Wer mag, kann auch auf den Kirchturm steigen und Vic von oben bestaunen.
Infos zu Vic
*das ist auch der Grund, warum die Fassaden der Häuser so schief wirken und keine gerade Linie bilden. Die ersten Häuser entstanden direkt an der Straße und folgten ihrem Verlauf.
Museu Episcopal
Plaça del Bisbe Oliba, 3
08500 Vic
www.museuepiscopalvic.com/es
Vicpuntzero
Die Tour führt zuerst durch die Gassen in der Nähe des römischen Tempels, dann wird der Film gezeigt. Treffpunkt ist die Oficina de Turisme.
Plaça del Pes, s/n
08500 Vic
Website: www.vicpuntzero.cat/en/
Werke von Josep Maria Sert gibt es auch im Rockefeller Center in New York, im Hotel Waldorf Astoria oder im Gebäude des Völkerbundes in Genf.
Meinen lieben Guide Xavi, der mir auch Ecken und Schätze gezeigt hat, die ich allein nicht gesehen hätte, findest Du hier https://www.forumvicus.cat/es/ (nur CAT/ ES). Die Leinwandfragmente im Rathaus beispielsweise sind nicht frei zugängig, sondern nur mit Guide zu besuchen.
Eine nette kleine Bar haben wir direkt an der Plaça Major gefunden. Drinnen sind die Wände voller Fotos, die den Platz in früheren Jahrzehnten zeigen. Leider habe ich mir den Namen nicht gemerkt, aber sie liegt direkt gegenüber des Vienna- Imbiss.
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