Vor etwas über hundert Jahren war Cardedeu bei den wohlhabenden Einwohnern Barcelonas sehr angesagt. Wer etwas auf sich hielt, hatte eine eigene Loge im Liceu und ließ sich einen Sommerpalast in Cardedeu errichten: „un palco en el Liceu y una torre en Cardedeu“.

Cardedeu – eine mittelalterliche Dorfchronik

Cardedeu gab es natürlich schon lange bevor die reichen Sommerfrischler hierher kamen. Viele Jahrhunderte lang bestand das Dorf aus wenigen Häusern und vereinzelt liegenden Höfen, die sich vorwiegend entlang der ehemaligen Römerstraße, der Via Augusta, erstreckten. Im 13. Jahrhundert verlieh König Jaume I der kleinen Siedlung erstmals gewisse Privilegien, wie das Recht, einen Markt abzuhalten.

brücke Cardedeu

Doch als ein anderer Herrscher mal wieder knapp bei der königlichen Kasse war, wurden die von Jaume I verliehenen Privilegien missachtet und Cardedeu an einen Landadeligen verkauft. Im mittelalterlichen Feudalsystem waren die meisten Bauern an die Scholle gebunden und mussten Frondienste leisten. Die Untertanen der Feudalherren hatten wenig zu Lachen. Doch die Einwohner begehrten auf. Um ihre verbrieften Rechte einzufordern, schreckten die ausgebrannten, hungrigen Bauern vor Nichts mehr zurück. Der Feudalherr Jaufred de Sentmenat verlor sein Leben. 1343 wurde Cardedeu als carrer i braç, als eine Straße Barcelonas, anerkannt. Dank der Tatsache, dass das Dorf an einer wichtigen Zufahrtsstraße lag, war es fortan von den feudalen Frondiensten befreit.

creu de terme

Diese wichtige Hauptstraße verlief damals allerdings nicht entlang der heutigen Avinguda Rei en Jaume, sondern quer durch Cardedeu. Vom Creu de Terme führte sie über eine kleine Brücke bis zu einem Wachturm auf dem Platz vor dem heutigen Rathaus. Der mittelalterliche Turm wurde leider abgerissen, weil die Besucher aus Barcelona einen hellen Platz zum Flanieren bevorzugten. Von dort führte die Hauptstraße durch Carrer Teresa Oller und Carrer Hospital bis zum Porta Sant Ponç. Hier endete Cardedeu.

1448 erschütterte ein heftiges Erdbeben die Gegend. Viele Menschen starben, der Kirchturm wurde beschädigt und viele Häuser stürzten ein. Ab 1599 galt Cardedeu als eine eigenständige Gemeinde. Während der Guerra des Segadors fiel auch Cardedeu den plündernden und brandschatzenden Truppen des spanischen Königs in die Hände.

Im Laufe der napoleonischen Kriege kam es hier sogar zu einer großen Schlacht. Bei der „Bataille de Cardedeu“ am 16. Dezember 1808 siegten die Truppen Napoleons über die Spanier und marschierten auf Barcelona. Im Louvre hängt ein Bild von Jean Charles Langlois, das diese Schlacht darstellt.

(Bild aus Wikipedia) 

Die Esglesia de Santa Maria ist eine bunte Mischung verschiedener Architekturstile. Die Ursprünge sind romanisch, die Grundmauern stammen vermutlich aus dem 16. Jahrhundert, die Fassade ist aber barock. Oft wurde die Kirche verbrannt, zerstört und wieder aufgebaut. Im 19. Jahrhundert ging sie wieder einmal in Flammen auf. Dieses Mal waren es Carlisten, die bei dem Überfall auch das Rathaus, das komplette Archiv und sogar den Bahnhof zerstörten.

Kirche Cardedeu

Fünfundzwanzig Männer hatten sich auf dem Kirchturm verschanzt, nachdem sie vergeblich versucht hatten, Cardedeu zu verteidigen. Dort warteten sie vergeblich auf Hilfe aus dem Nachbarort Granollers. Schließlich mussten sie sich ergeben und wurden, entgegen dem Versprechen sie am Leben zu lassen, von den Belagerern kaltblütig erschossen.

santa maria kirche

Raspall und die Sommerfrische in Cardedeu

Nach dem Ende der Karlistenkriege kam es in ganz Katalonien zu einer Art Wellnesstourismus. Die wohlhabenden Bürger fuhren raus ins Grüne, in Badeorte wie Caldes de Malavelles oder Sant Hilari Sacalm, wo das Wasser aus dem Boden sprudelt, um dort Trinkkuren zu machen. Oder man suchte die frische Luft des Montseny, wie in Cardedeu. Bald entwickelte sich das kleine Dorf zu einem Lieblingsort der reichen Einwohner Barcelonas. Wer es sich leisten konnte, entfloh den staubigen und schmutzigen Gassen der Großstadt, um hier die Sommerfrische zu verbringen.

1860 kam die Bahn nach Cardedeu. Eigentlich sollte die Bahnlinie durch La Roca führen, doch im letzten Moment entschied man sich in Barcelona für eine Änderung der geplanten Trasse. Die Verlegung der Strecke nach Cardedeu spielte bei der Entwicklung des Dorfes eine entscheidende Rolle. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstanden die ersten modernistischen Villen. Politiker, Bänker, reiche Industrielle ließen sich von bekannten Architekten wahre Paläste errichten. Anfangs war der modernistische Stil sehr angesagt. Bald trugen die Entwürfe jedoch immer mehr noucentistische und noch später dann klassizistische Züge.

ajuntament cardedeu

Manuel Raspall war einer dieser Architekten, ein Modernist der zweiten Generation. Er arbeite längst nicht mehr so schnörkelig und blumig, wie Gaudí, Domènech i Muntaner oder Puig i Cadafalch. Raspall hatte zwar bei den Stararchitekten der ersten Stunde gelernt, doch er entwickelte bald seinen eigenen Stil. Während seine Werke bis 1914 noch eindeutig modernistisch geprägt waren, zeigten seine späteren Entwürfe immer mehr noucentistische Züge. Typisch für Raspall sind die nordeuropäisch anmutenden Giebel der Wohnhäuser, feine Sgraffiti an den Fassaden, Mosaike zerbrochener Scherben (Trencadís), schmiedeiserne Arbeiten und feine Buntglasfenster.

In Barcelona stammen zum Beispiel El Molino, eine an das Pariser Moulin Rouge erinnernde Bar, und der Palau Mornau von Raspall. Der wunderschöne Bau liegt etwas versteckt im Barri Gotic. Seit er vor einigen Jahren aufwendig restauriert wurde, beherbergt er das Hanfmuseum.

Raspall Palau Mornau

Die meisten modernistischen Bauten des Vallès Oriental sind Manuel Raspall zuzuschreiben. Nur wenige Stationen unserer kleinen Route durch Cardedeu stammen von anderen Architekten.

1988  Font Publica – Trinkbrunnen RaspallBrunnen Cardedeu

1904 Alqueria Cloèlia

Als Geburtstagsgeschenk für ihren Ehemann hatte die wohlhabende Senyora Espinach ein neues Ferienhaus in Cardedeu in Auftrag gegeben. Der junge Raspall entwarf ein schönes Haus mit Brunnen und einem großem Garten. Da es nicht nur Blumenbeete, sondern auch einen kleinen Obst-und Gemüsegarten gab, taufte die Bauherrin das Anwesen „Alqueria“, was im Spanischen so etwas wie ein Landgut bezeichnet. Einen der drei mit Mosaiken geschmückten Brunnen im Garten kann man von der Straße aus sehen. Der kleine Turm diente früher übrigens als Wasserspeicher für die Sanitäranlagen.

Vor vielen Jahren durfte ich das Haus einmal betreten, als dort gerade Dreharbeiten stattfanden. Damals war der Garten noch doppelt so groß, denn mittlerweile ist eine Hälfte des Grundstücks mit kleinen Reihenhäusern bebaut worden.

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1908 Casa Arquer – Floresteria

Direkt gegenüber der Kirche steht die von Raspall entworfene Casa Arquer. Unter den wellenartigen Bögen des Balkons befindet sich heute ein Blumenladen. An der Umrandung des Balkons entdecken wir die bunten Keramikscherben. Diese nach unten hin bauchig geschwungene Form des Balkongitters nennt man „coup de fouet„. Ein Balkon wie aus  eisernen Peitschenhieben.

Casa Arquer

coup de fouet    modernismeDie Casa Arquer und die Casa Clavell liegen nur wenige Meter auseinander.

1908 Casa Clavell – Melindro

Obwohl die Casa Clavell zwischen den 30er und den 80er Jahren diverse Umbauten erfuhr, sind noch Details aus Raspalls ursprünglichem Entwurf erhalten geblieben. Besonders tyisch für Raspall war die stufige Giebelstruktur, die an belgische oder niederländische Gebäude erinnert. Lange Zeit befand sich hier die Granja – Caféteria „El Melindro“. Im Speisesaal zieren noch die originalen Kacheln den Fußboden und den Kamin. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Einwohnerzahl Cardedeus verdoppelt. Immer mehr Cafés wurden eröffnet, doch das Meldindro hat das Jahr 2020 nicht überlebt und sucht derzeit einen neuen Betreiber.

melindro

1909 Cal Peó – Cerveseria Sant Jordi

Ursprünglich war dieses ebenfalls von Raspall entworfene Gebäude ein Getreidespeicher. Der Händler Salvador Clavell lagerte hier Mehl, Körner und andere Waren. Im Gegensatz zu den prächtigen Sommerhäusern war dieses Gebäude direkt an den Bahngleisen eindeutig für eine wirtschaftliche Nutzung gedacht. Seit einigen Jahren dreht sich hier wieder alles um Getreide. Dieses Mal allerdings in flüssiger Form, denn Raquel Clavell, Joel Peris und Roger Marín brauen hier leckere Caft Biere. www.cervesasantjordi.cat  Wenn Du mehr über das gute Bier wissen willst: Cerveseria

Cal Peó Cardedeu
Cal Peó Cardedeu

1911-12 Casa Gual – Torre Montserrat

Die Torre Montserrat hat etwas Verwunschenes. Türmchen und Treppchen, Mosaike, schmiedeiserne Tore und verschnörkelte Figuren wie bei einer mittelalterlichen Burg. Dieses verzauberte Schlösschen haben wir dem Architekten Balcells i Buïgas, einem Cousin Raspalls, zu verdanken.

casa gual cardedeu

torre montserrat

casa gual cardedeu

Der katalanische Modernisme war gleichzeitig auch eine soziale Bewegung und enthielt ein ziemlich patriotisches Moment. Daher kann man an modernistischen Gebäuden sehr oft Rückgriffe auf das „glorreiche“ Mittelalter entdecken. Das freundliche Mosaik des Türmchens leuchtet goldgelb in der Sonne. Eiserne Blüten ragen wie bei einem Dornröschenschloss in den Himmel. Der Eingang des Hauses liegt auf einem kleinen Podest und wirkt fast wie eine Bühne. Doch mir gefallen die Wasserspeier am besten. Im Mittelalter kamen diese grotesken Figuren oft an den Fassaden der Kirchen vor. Meist stellten sie Fabeltiere oder andere skurrile Wesen dar.

Einerseits sollten diese Figuren natürlich das Regenwasser ableiten und böse Geister fernhalten, anderseits waren sie auch eine willkommene Gelegenheit für die Künstler ihrer Kreativität freien Lauf zu lassen. Da sich im Mittelalter außer den reichen Kirchenfürsten kaum jemand leisten konnte, Kunstwerke in Auftrag zu geben, waren die Ausdrucksmöglichkeiten der Kunstschaffenden ziemlich einschränkt.

casa gual cardedeu

gargola Torre montserrat

1917-22  Casa Viader

Direkt an der ehemaligen Hauptstraße, heute eine der ältesten Straßen des Dorfes, steht die Casa Viader. Manuel Raspall hat hier drei bereits bestehende Gebäude so umgebaut, dass ein hell und freundlich wirkender, kurvenreicher Wohnpalast entstand. Vom Rathaus kommend befinden sich an der rechten Seite der Straße noch drei weitere modernistische  Bauten, die Casa dels Bell-lloch, Casa Golferich und die Casa Masó. Die linke Straßenseite besteht hingegen aus wesentlich kleineren, einfachen und sehr gleichförmigen Häusern. Die Breite dieser nach Norden liegenden Gebäude entsprach der Breite der damals handelsüblichen Holzbalken, nämlich genau ein „cos“ (casa cos). Wer mehr Platz hatte, baute sein Haus zwei Balken breit.

Diese Straße zeigt den krassen Gegensatz der Zeit des Modernisme sehr deutlich. Direkt gegenüber der eng aneinander geschmiegten, schattigen Häuser, erheben sich die Licht durchfluteten, prachtvollen Paläste der Sommerbesucher mit ihren üppigen Terrassen und grünen Blumengärten, die fast schon parkähnliche Ausmaße annehmen.

casa viader

casa viader cardedeu

viader cardedeu

(Nachtrag: bei der Ruta Raspall, einer geführten Tour zu den modernistischen Gebäuden Cardedeus, durften wir sogar in den Garten der Casa Viader: Ruta Raspall Die Tour findet übrigens jeden 1. Sonntag im Monat statt. Anmelden kann man sich im Museum in Cardedeu.)

garten viader cardedeu
viader cardedeu

1925 Granja Viader

Der erste katalanische Kakao, der berühmte Cacaolat, entstand aus der Milch der Kühe der Granja Viader, deren Nachkommen heute die Granja Viader in Barcelona betreiben. Das von Raspall entworfene Hofgebäude liegt direkt hinter dem Bahnhof Cardedeus, zwischen grünen Äckern und Feldern.

granja viader

1908 Casa Golferichs und 1916 Casa Masó

Beim Entwurf der Casa Masó hat Raspall wohl die blauen Umrandungen der traditionellen Fischerhütten in Sitges im Kopf gehabt. Auf mich wirkt dieses Blau jedenfalls sehr mediterran. Direkt neben liegt die Casa Golferich die von außen eher unscheinbar wirkt, aber innen echte Schätze birgt. Bisher habe ich leider nur Fotos von einem unglaublich gut erhaltenen modernistischen Badezimmer und bunten Glastüren gesehen.

casa maso

1914 Torre Amat

Ein beeindruckender Bau ist die Torre Amat des Architekten Ramon Puig Gairalt. Der Baustil ist allerdings nicht mehr modernistisch, sondern klassizistisch. Die Herrschaften Amat hatten eigentlich vor, eine eigene Siedlung anzulegen. Weitere Paläste und ein Casino zum Vergnügen der wohlhabenden Urlauber sollten entstehen. Doch so richtig entfalteten sich die Pläne nicht mehr. Der Bürgerkrieg stand vor der Tür und machte den hoffnungsvollen Zukunftswünschen der Herrschaften einen Strich durch die Rechnung.

casa amat cardedeu

Cementiri – der Friedhof

Ein bisschen außerhalb Cardedeus liegt der kleine Friedhof. Als Manuel Raspall diese Anlage 1917 entwarf, hatte er ganz genaue Vorstellungen davon, wie ein Cementiri auszusehen habe. Ein Friedhof solle auf eine gefühlvolle Art künstlerisch sein, auf künstlerische Art traurig, bautechnisch ernsthaft und nüchtern, und bildlich romantisch. Auf eine dekorative Art mystisch. Symbolisch religiös. Genau das hat er in Cardedeu umgesetzt.

cementiri modernista cardedeu

cementiri modernista cardedeu

Dieser kleine Friedhof bezaubert mich jedes Mal aufs Neue. Ich werde bald noch mehr darüber in einem extra Artikel erzählen.

Museu Tomàs Balvey

Und last but not least ist da natürlich noch das Museum Tomàs Balvey, direkt neben dem Rathaus. Dort gibt es jede Menge Infos über Cardedeu, wechselnde Ausstellungen und eine alte Apotheke aus dem achtzehnten Jahrhundert.

museu cardedeu

museum

Bei diesem kleinen Spaziergang durchs Dorf habe ich noch so viele Sachen ausgelassen, die eigentlich auch sehr schön sind. Vielleicht schreibe ich demnächst noch mehr kleine Geschichten, über die Fleca vella, die älteste Bäckerei im Dorf, den ersten „modernen“ Mietwohnungskomplex, die kleine Kapelle Sant Corneli, alte Bauernhäuser, die Dolmen de Pins Rosers, la Font dels Oms oder die vielen kleinen Mini-Kapellen am Straßenrand.

Falls Du noch mehr Infos suchst: www.cardedeu.cat