Hoch über dem türkisfarben schimmernden Wasser des Stausees liegt das Monasterio de Leyre am Fuße eines Felsmassivs. Es ist leicht zu verstehen, warum die Mönche im frühen Mittelalter ausgerechnet an einem Platz wie diesem ihr Kloster errichteten. Den Stausee gab es damals zwar noch nicht, doch der Rio Aragón fließt schon seit Urzeiten durch das Tal. Es gibt manchmal Orte, die etwas Besonderes haben, auch wenn man es nicht immer gleich in Worte fassen kann. Dies hier ist so einer. Noch bevor ich das Kloster betrete, zieht mich dieses Fleckchen Erde in seinen Bann.

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Zunächst mache ich mich auf eine kleine Entdeckungstour. Ein Spazierweg führt vom Kloster zu einer Quelle, der Fuente de San Virila. Vom Parkplatz aus geht es links hoch auf einen Schotterweg. Ein Pfeil weist nach links, einen kleinen Hügel hinauf, der zu einem hübschen Aussichtspunkt führt. Das Kloster und der Blick auf den See liegen vor mir. Als ich mich endlich “satt” gesehen habe, kehre ich dem Mirador den Rücken und folge dem Weg in Richtung Berg. Mächtig, kraftvoll und mit einer herausfordernden Aura, ragt der Berg steil in den Himmel. Er ist gar nicht so sehr hoch, aber durch seine fast senkrecht aufragende Seite, scheint die Krone dieses Gebirgszuges nur für Alpinisten erreichbar, als würde er rufen, willst Du mich bezwingen? Trau dich doch!

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Während ich so auf diese Felswand zumarschiere, hoffe ich, dass die Quelle nicht auf halber Höhe oder gar oberhalb der Felswand liegt. Und ich habe Glück. Schon bald zeigt ein weiterer Wegweiser nach links auf einen Trampelpfad. Der Boden wird hier weicher und waldiger. Statt über grauen Schotter laufe ich über getrocknete Blätter und kleine Ästchen. Ich liebe Waldböden! Sie riechen so erdig und feucht, aber trotzdem auch unterschiedlich. Am liebsten mag ich den Duft von Pinienwäldern. Die gibt es hier zwar nicht, aber dafür viele Steine. Nicht so kleines Geröll, sondern schon größere Brocken, die man überklettern oder umrunden muss.

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Im wahrsten Sinne des Wortes geht der Weg über Stock und Stein. Der Wald ist ziemlich dicht. Keine Spur von dem Wind, der vor dem Kloster eben noch heftig wehte. Hinter dichten Sträuchern verborgen, regt sich um mich herum kein Blättchen. Dafür zwiterschert es irgendwo in den Ästen über mir.

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Die Wegmarkierungen werden spärlicher. Anfangs gab es großer Schilder, dann kleine Pfeile, nun suche ich nach Markierungen an den Felsbrocken oder Baumstämmen. Einer alten Legende nach soll im zehnten Jahrhundert ein Abt namens Virila auf dem Weg zu dieser Quelle einem Rotkehlchen gelauscht haben. Virila war als Zweifler bekannt, der sich viel und oft Gedanken über das ewige Leben im Himmel machte. Er war so verzückt vom Gesang des Vogels, dass er darüber die Zeit vergaß. Entspannt den Klängen der Natur lauschend, nickte er ein. Als er aufwachte und zurück ins Kloster eilte, erkannte ihn dort keiner der anderen Mönche. Er könne nicht der Abt sein, denn das Kloster habe bereits einen Abt, sagte man ihn. Schließlich fand einer der Brüder im Archiv alte Aufzeichnungen, denen zufolge rund dreihundert Jahre zuvor ein Abt Virila eines Tages spurlos verschwunden sei.

Diese 300 Jahre Zeitraffer sollten für den zweifelnden Mönch wohl eine Art Vorgeschmack darauf sein, wie sich das Geheimnis des ewigen Lebens anfühlt. Da inzwischen keinerlei Wegweiser mehr zu erkennen sind, beschließe ich (vermutlich nur noch wenige Meter von der Quelle entfernt) doch lieber umzukehren. Schließlich will ich nicht, dass es mir so ergeht, wie dem Abt und ich erst im Jahr 2220 wieder aus dem Wald herauskomme. Und das Kloster will ich auch noch besichtigen und rechtzeitig zur Abendmesse mit den gregorianischen Gesängen zurück sein.

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In dem kleinen Andenkenladen gibt es die Tickets zur Besichtigung des Klosters. Zu meiner großen Verwunderung händigt mir die nette Dame dort einen Schlüssel für die Krypta aus. Damit kann ich auf eigene Faust losziehen und das Kloster erkunden. Also die Bereiche, die für Besucher zugänglich sind, denn im Hauptteil des Monasterio de Leyre leben die Benediktinermönche in Klausur.

Behutsam schließe ich also die Tür zu dem unterirdischen Gewölbe des Klosters auf – und komme aus dem Staunen nicht mehr heraus. Ganz allein stehe ich inmitten der stillen Mauern. So etwas Schönes hatte ich nicht erwartet. Die geschwungenen Bögen erinnern mich ein wenig an maurische Zisternen, nur dass das hier natürlich alles im romanischen Stil gebaut wurde und viel schlichter und ist. Aber trotzdem. Vielleicht ist es einfach diese Klarheit, die mich so umhaut. Ich kriege den Mund gar nicht wieder zu und drehe mich staunend im Kreis.

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In Kniehöhe beginnen die unterschiedlich geformten, massiven Säulen, die nach oben hin die Bögen tragen. Am Ende eines langen Ganges, der wie ein verborgener Tunnel mit einem Gitter versperrt ist, befindet sich eine Statue des Zeitreise-Abtes San Virila. Angeblich soll dieser Tunnel einst aus dem Kloster heraus geführt haben, doch im Laufe der Zeit kam es zu zahlreichen Umbauten, 1836 nach dem Gesetz der Desamortisación de Mendizábal gar zur vorübergehenden Schließung des Klosters, sodass aus dem Tunnel irgendwann eine Sackgasse wurde.

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Nur ungern trenne ich mich von diesem Gewölbe, doch wenn ich rechtzeitig zur Abendmesse in der Kirche sein will, muss ich die Krypta wieder verlassen. Viertel vor sieben läuten die Glocken zu den Vísperas. Die Kirchentür wird geöffnet, um die Gläubigen und nichtgläubigen Besucher der Kirche einzulassen. Manche nehmen sich ehrfürchtig bekreuzigend in einer der Bänke Platz, andere bummeln neugierig im Kirchenschiff herum. Kurz huscht eine schwarz gekleidete Gestalt vor dem Altar entlang und ist schnell wieder verschwunden. Das war wohl einer der Mönche, der eben schnell nach dem Rechten gesehen hat. Während ich warte, dass es losgeht, sehe ich mich von meinem Platz in der letzten Reihe etwas um.

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Die Kirche ist schlicht und karg. Vermutlich wurde sie wie die meisten Kirchen nach der Enteignung im 19. Jahrhundert geplündert und viele alte Kunstwerke zerstört. Ich mag diese Kahlheit der romanischen Kirchen sehr gern. Gerade weil sie nicht prall mit Gold und Gemälden gefüllt sind, nicht mit Prunk und Reichtum protzen. Obwohl sie ihrer Schätze und sogar der Wandmalereien beraubt sind, wirken sie ursprünglicher und echter, als so manche Barrockkirche. Für die Gläubigen des Mittelalters waren diese Gotteshäuser mehr als nur ein Ort des Gebets. Hier fanden sie Schutz und erhielten Antworten auf viele Fragen des Lebens. Neben den Worten der Priester, gaben auch die Bilder an den Wänden eine leicht verständliche Anleitung, was man im Alltag zu tun und zu lassen hatte, wenn man in den Himmel kommen wollte.

Wie die meisten Kirchen verströmt auch diese Klosterkirche einen Duft nach feuchtem Stein. Aber hier liegt noch etwas anderes in der Luft, ein Geruch nach poliertem Holz und muffigem Samt. Ich schnüffle dezent an der Bank. Nicht ganz. Ob das von den Beichtstühlen kommt? Dann läutet es ein zweites Mal und die Mönche betreten gemeinsam das Kirchenschiff. Durch eine Seitentür schreiten sie eilig durch den vorderen Teil der Kirche. Sie werfen keinen Blick auf die Menschen im Kirchschiff. Die Männer bleiben eindeutig für sich.

Ich bin erstaunt, wie viele Mönche es sind, die hier wie vor hundert Jahren nach den Regeln des Benediktinerordens leben. Ora und Labora, Gebet und Arbeit bestimmen der Alltag der Klostermauern. Synchron verbeugen sie sich andächtig vor ihrem Herrn, ehe sie sich auf ihren Plätzen niederlassen. Auch in den Bänken vor mir haben sich ein paar Gläubige erhoben. Schon beginnt der Gesang und die Stimmen der Männer erfüllen das Kirchenschiff. Auch wenn ich nicht katholisch bin, das gemeinsame Singen, besonders tiefe Stimmen, die eindrücklich durch das Gewölbe hallen, holen mich schon sehr ab.

Vor einigen Jahren war ich mal ein paar Tage in einem Frauenkloster und haben an den Vísperas der Nonnen teilnehmen dürfen. Das war sehr rührend und schön, aber im Vergleich zu den vollen Stimmen der gregorianischen Gesänge klang das damals sehr viel schüchterner und zaghafter. Die Damen waren allerdings auch schon in ihren 80er Jahren, während unter den Mönchen hier auch sehr junge Männer sind.

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Das Monasterio de Leyre ist nicht nur ein architektonischer Schatz, sondern spielte in der Geschichte Navarras eine ziemlich bedeutende Rolle. Lange vor der Zeit der Reconquista, als die christlichen Könige die Iberische Halbinsel von den Mauren eroberten, erstreckte sich das Königreich Navarra über einen großen Teil der Pyrenäen bis ins heutige Südfrankreich.

In einem kleinen Pantéon Real an der rechten Seite des Kirchenschiffs ruhen die Überreste der ersten Könige von Navarra in einer Truhe. Die umfangreiche und bedeutende Bibliothek des Monasterios de Leyre wird schon im Jahre 844 erwähnt, d.h. das Kloster muss schon einige Jahre vor diesem Zeitpunkt errichtet worden sein.

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Zurück in meinem Zimmer, das in der Hospedería de Leyre, nördlich der Klosterkirche, liegt, blicke ich auf den mittelalterlichen Hof mit dem Kirchturm und der ursprünglichen Eingangspforte, die heute wie eine kleine Seitentür im Vorderteil des Kirchenschiffs zu erkennen ist.

Infos zum Monasterio de Leyre

Website des Klosters (auch auf Deutsch), auf der es die genauen Uhrzeiten der Messen und Infos zur Unterbringung im Kloster gibt.
Einritt Kloster: 5 Euro (+ 5 Euro Pfand für den Schlüssel)

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Ganz in der Nähe des Klosters liegt übrigens das Castillo de Javier, eine ziemlich gut erhaltene Burg, in der es vor allem um die Geschichte des Heiligen Francisco von Javier geht, dessen Leben in zahlreichen Dioramen und auf Gemälden dargestellt ist. Mich hat allerdings die kleine Kapelle mit Wandmalereien am meisten beeindruckt. Die Skelette an der Wand zeigen nämlich die Dansa de los Muertos, den Totentanz, eine mittelalterliche Tradition. Dieser Tanz wird in Verges als Teil der Passionsgeschichte bis heute jedes Jahr zu Ostern aufgeführt.

Website des Castillos 
Eintritt: 5 Euro
Einen Audioguide gibt es an der Kasse.

Hinweis: Zur Übernachtung wurde ich von Turismo Navarra eingeladen.