Grenzen überwinden, das gehört zum Reisen einfach dazu, sagt Merten Worthmann, Redakteur bei der ZEIT. Was aber passiert, wenn es da, wo man sich abgrenzen möchte, keine Grenzen gibt? Soll man neue Grenzen ziehen? Oder findet man andere Grenzen als die politischen?
Als Zuhörerin bin ich dabei, wie die Experten mit ihren Vorträgen die Teilnehmer auf ihre Reise durch Katalonien vorbereiten. „Grenzen überwinden“, so lautet denn auch das Thema, des Symposiums auf dem drei ZEIT-Redakteure und eine Vertreterin der katalanischen Regierung sowohl die Seele Kataloniens als auch die politische Dimension des Themas ausloten. Ich bin begeistert von diesem Ansatz und will mehr darüber wissen. Bevor ich Bernd Loppow, dem Gründer und Programmleiter von ZEIT REISEN, am Ende des Symposiums ein paar Fragen stellen kann, lausche ich also konzentriert den Ausführungen der Korrespondenten.
Die katalanische Seele
Als aufmerksamer Beobachter führt Merten Worthmann seine Zuhörer charmant durch die Geschichte, mitten hinein in die Kultur und in die Seele der Katalanen. Viele Jahre lang haben sich die Menschen hier über einen liebevoll verträumten Patriotismus und durch die Bewahrung ihrer Traditionen vom Rest Spaniens abgegrenzt. Er berichtet von ihrer Rückbesinnung auf das glorreiche Mittelalter und die Bedeutung der einstigen Seemacht Katalonien. Doch berechtigt diese Vergangenheit heute zu irgendetwas? Merten Worthmann beantwortet sich diese Frage selbst: Nein.
Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts veränderte die eintretende Industrialisierung die damaligen Gesellschaften Europas von Grund auf. In Barcelona herrschte bittere Armut. Hier blühte die aufkommende Bewegung der Anarchisten stärker, als an den meisten anderen Orten. Die Renaixença, eine Rückbesinnung auf katalanische Wurzeln und die einstige Größe, stärkte die Katalanen in ihrer Identität. So konnten sie die immer wieder verteilten Seitenhiebe aus Madrid gemeinsam verschmerzen.
Das Gefühl der Renaixança, des Wiederauflebens der glorreichen katalanischen Geschichte, lebe noch heute, sagt Worthmann. Und er erklärt den Zuhörenden die Bedeutung des Sant Jordi. Jeden Tag am 23. April feiern die Katalanen nämlich ihren Schutzpatron, in dem sie sich Rosen und Bücher schenken (denn der 23. April ist auch der Todestag Cervantes und Welttag des Buches). Sant Jordi rettet als tapferer Ritter nicht nur die Prinzessin vor dem Monster, sondern bringt auch noch die Landschaft zum blühen. Denn der Legende nach erwachsen rote Rosen aus dem Blut des getöteten Drachen. Die Rollen in dieser Metapher sind klar verteilt.
Merten Worthmann berichtet von katalanischen Tugenden, von Seny und Sparsamkeit, von Tüchtigkeit, Zusammenhalt und Vernunft. Er erzählt von Traditionen wie der Sardana oder den Castells, von Schriftstellern, Künstlern und Intellektuellen, die zu Beginn des letzten Jahrhunderts loszogen, um ihr kulturelles Erbe zu retten. Eine wahre Wanderbewegung, der Excursionisme, setzte damals ein. Doch nur dank dieser frühen Besinnung auf das Mittelalter und die Suche nach den katalanischen Wurzeln, sind viele Klöster und Kunstwerke überhaupt bis heute erhalten geblieben.
Castells – Els Marrecs de Salt
Fast schon masochistisch sei es, dass der Nationalfeiertag Kataloniens der Tag ihrer größten Niederlage ist. Normalerweise feiert man eher Siege und rühmt sich vergangener Heldentaten – nicht so hier. Der Tag, an dem Barcelona einst beinahe dem Erdboden gleich gemacht wurde, ist bis heute ein wichtiger Gedenktag. Jedes Jahr am 11. September rufen sich die Katalanen wieder zu Bewusstsein, wer sie sind und wo sie stehen. Der Zeit Redakteur beschreibt das Denkmal des Anführers dieser Schlacht, Rafael Casanovas, als das Standbild eines Gedemütigten. Er war kein heroischer Held, sondern ein tragischer Vertreter des katalanischen Volkes, der gegen Madrid aufbegehrte – und verlor.
Unter König Felipe V und auch unter dem Diktator Franco war die Unterdrückung der Katalanen traurige Wirklichkeit. Das Verbot ihrer Sprache und die Auflösung vieler althergebrachter Rechte und Traditionen stellten einen Angriff auf den Kern ihrer Identität dar. Auch durch die Förderung der Immigration aus dem Süden versuchte Franco die katalanische Identität aufzuweichen. Mit dem massiven Zustrom von Arbeitssuchenden aus den ärmeren Regionen im Süden, entstanden regelrechte Gettos an den Rändern Barcelonas. Unkontrolliert wurden simple Baracken am Strand der Barceloneta oder auf dem Hügel el Carmel gebaut. Die Menschen liessen sich nieder, wo sie nur Platz fanden, und bauten ihre Behausungen, so gut sie eben konnten. Im Barri Somorrostro lebten die Zugewanderten in teils sehr prekären Situationen. Erst zu den Olympischen Spielen 1992 gab es „Säuberungsaktionen“, bei denen ganze Stadtviertel restauriert und umgebaut wurden.
(Foto ©Christian Baus)
Doch Francos Verfolgung der Katalanen provozierte auch ein anderes Phänomen, so Merten Worthmann. Durch seine Politik der Verbote alles Katalanischen, habe er bewirkt, dass der Widerstand gegen die Diktatur, die ja traditionell von Links kam, hier in Katalonien auch nationale Züge trug. Im Widerstand gegen Franco mischten sich die Ideen der rebellierenden Linken mit konservativen, patriotistischen Ideen.
Zu Beginn des letzten Jahrhunderts war die politische Linke in Spanien stark. Vermutlich war sie stärker, als irgendwo anders in Europa. Utopisten und Sozialisten verfolgten in Barcelona träumerische Ideale – von der Stadtplanung Ildefons Cerdà bis zu den U-Booten Narcís Monturiols. Intellektuelle aus England, Deutschland, Russland oder den USA kamen in den zwanziger und dreißiger Jahren, um dabei zu sein und mitzukämpfen, wenn der Sozialismus endlich in die Realität umgesetzt werden würde. Seite an Seite mit den spanischen und katalanischen Anarchisten und Kommunisten kämpften internationale Brigaden für die Utopie einer besseren Welt – bis Franco den Spanischen Bürgerkrieg gewann und eine Diktatur errichtete, die noch bis in die 70er Jahre bestehen bleiben sollte. George Orwell hielt in „Mein Katalonien“ seine Erlebnisse aus dieser Zeit fest, Ernest Hemingway verarbeitete seine Erlebnisse des spanischen Bürgerkriegs in „Wem die Stunde schlägt“.
Katalonien und Europa
Ulrich Ladurner, Europakorrespondent der ZEIT in Brüssel, spricht über die Überwindung und Neuinstallierung politischer Grenzen in Europa. Ehe er sich dem Fall Katalonien zuwendet, erinnert er die Zuhörer daran, dass in vielen europäischen Nationalstaaten regionale Minderheiten leben.
Ladurner sieht die Geschichte der Unterdrückung regionaler Minderheiten als eine Geschichte voller Schmerz, von der sich die Gesellschaft befreien müsse. Doch wie kann man sich von historisch erlittenem Unrecht befreien? Der erfahrene Europakorrespondent, als Südtiroler selbst Teil einer Minderheit, weist auf die zahlreichen Gefahren separatistischer Bewegungen hin. Dadurch, dass der Schmerz in der Vergangenheit liege und die erhoffte Lösung, das „ersehnte Paradies“ in der Zukunft warte, seien manche Menschen geleitet von Passion und Leidenschaft, blind und taub für die Realität der Gegenwart. Für propagandistische Politiker sei es ein Leichtes, emotional aufgeladene Mengen zu leiten. Sie benützten Schmitts Freund-Feind-Schema, um die Menschen in dieser Situation zu instrumentalisieren.
(Foto ©Christian Baus)
Als Gemeinschaft der Nationalstaaten könne sich die EU nicht in regionale Konflikte einmischen, betont Ladurner. Es liege ja gar nicht im Interesse der Nationalstaaten, dass eine Region, wie zum Beispiel Katalonien, unabhängig werde. Einem solchen Antrag auf Mitgliedschaft in der EU würde Spanien niemals zustimmen. Auch Italien und Frankreich hätten sicher Einwände. Ulrich Ladurner kennt die EU. Die Europäische Union sei ein nüchterner Apparat. Sie sei nicht emotional getragen und wirke geradezu hilflos, in ihrem Versuch dem Ansturm passioniert kämpfender Menschenmassen entgegenzutreten. Die Menschen träumten von einer gesellschaftlichen Utopie, die EU biete ihnen nur trockene Vernunft. Doch, so Ladurner, die Gemeinschaft der Nationalstaaten sei als ein Projekt der Zähmung des politischen Leidens gedacht, als Abkühlung politischer Emotionen.
Der Völkerkonflikt auf dem Balkan ging blutig aus, sagt er. Dort hatte man mit Gewalt versucht, erlittenes Unrecht ins Recht zu setzen – und die EU schaute weg. Der Brexit beschäftigt mittlerweile ganz Europa und spaltet Großbritannien. Die Schotten wollen in der EU bleiben, die Engländer sind geteilter Meinung. Die Emotionen des britischen Nationalismus konnte die EU nicht bändigen.
In Katalonien, so schätzt man, ist rund die Hälfte der Bevölkerung für, die andere Hälfte gegen die Unabhängigkeit. Bei der anschließenden Fragerunde kommt auch Marie Kapretz, Vertreterin der Generalitat de Catalunya in Deutschland, zu Wort. Sie fasst die politischen Geschehnisse und die Gründe, die zur Entwicklung der Unabhängigkeitsbewegung führten, kurz zusammen. Dabei ist es ihr wichtig zu betonen, wie friedlich die Katalanen nach wie vor für ihre Ziele kämpfen. Hier gibt und gab es keine Attentate oder Gewalt von Seiten der Unabhängigkeitsbefürworter. Geduldig erläutert sie die katalanische Sicht der aktuellen politischen Situation.
Auch wenn die Katalanen im Grunde genommen nie aufgehört haben, für ihre Identität zu kämpfen, begann die Unabhängigkeitsbewegung erst mit der Wirtschaftskrise vor rund zehn Jahren an Bedeutung zu gewinnen. Mehrere entscheidene Faktoren kamen damals zusammen. Die unflexible Haltung der spanischen Zentralregierung, die alle Gespräche mit der Generalitat ablehnte und das Abhalten eines Referendums für illegal erklärte, trug nicht gerade zur Entspannung der aufgeladenen Situation bei.
Am Ende erzählt Dr. Wolfgang Lechner schließlich noch die Legende der Entstehung der katalanischen Flagge. Der langjährige ZEIT Redakteur wird als Genuss-Experte eine der drei kleinen Gruppen von hier aus auf ihrer Reise durch Katalonien begleiten. Es ist ein sehr interessantes, und wie ich finde, sehr spannendes Symposium. Die Experten wissen, wovon sie reden und beleuchten die Region aus den verschiedensten Winkeln und Perspektiven. Nicht nur politische Konflikte kommen zur Sprache, sondern auch die besonderen Eigenheiten der Katalanen, ihre Mentalität und ihre Traditionen werden humorvoll und charmant erklärt. Schon an dem Austausch zwischen den Fachleuten und den Teilnehmern merkt man, dass sich die Reisenden wirklich mit dieser Region beschäftigen und sie näher kennenlernen wollen.
Winfried der Haarige
ZEIT REISEN – Katalonien
Nach dem Ende des Symposiums, während die Teilnehmer zu Mittag essen, nimmt sich Bernd Loppow ein paar Minuten Zeit, um mir sein Konzept zu erklären. Vor fast zwanzig Jahren, damals noch als Redakteur in den Ressorts für Reise und Wirtschaft, gründete er ZEIT REISEN. Bei uns geht es darum, die Region, in die eine Reise führt, differenzierter kennenzulernen. Die Menschen sollen das entdecken, worauf es ankommt: Sie sollen ein Gespür für die Region entwickeln, verstehen, was die Menschen vor Ort bewegt. Sie sollen erfahren, warum eine Situation so ist, wie sie ist, die Hintergründe der Gesellschaft und die Mentalität der Einwohner kennenlernen.
Oft ist schon der Weg selbst das Ziel, wie bei der Busreise nach Shanghai, sagt Bernd Loppow. ZEIT Reisen sind für ihn eine umfassende Erfahrung, ein wenig so, wie die Wissenschaftler und Entdecker in vergangenen Jahrhunderten gereist sind. Für mich ist das Beste an den ZEIT Reisen, dass Experten die Teilnehmer begleiten. Korrespondenten, Redakteure, Fachleute, Menschen, die sich wirklich gut auskennen, beleuchten verschiedene Aspekte der Gesellschaft, auf ZEIT Niveau, nur eben live und in Farbe. Vorträge und Diskussionsrunden werden organisiert, damit die Teilnehmer die Informationen aus den Expertenberichten anschließend mit ihren eigenen Erlebnissen vor Ort vergleichen können.
Nachdem ich nun die Vorträge, mit denen die Teilnehmer auf die Region vorbereitet werden, gehört habe, bin ich völlig begeistert. Von Girona aus, wo die Reisen durch Katalonien am Nachmittag beginnen, geht es ins Hinterland, zu Weingütern und Kunststätten, in die Natur und ans Meer. Auf dem Programm steht neben dem Besuch von Öl- und Weinproduzenten auch eine Muschelfarm im Ebrodelta. Die ZEIT Leser werden nach Cadaqués und Puból fahren, an die Costa Brava und ins Hinterland. Sie werden gute Weine und traditionelle Gerichte wie Mar i Muntanya kosten, bei dem frische Zutaten aus „Meer und Bergen“ zusammen auf den Teller kommen.
In den kommenden Tagen können die Reisenden selbst herausfinden, ob und auf welche Grenzen sie hier stoßen werden. Sie können eigene Erfahrungen sammeln und sich ein ziemlich umfassendes Bild von den Katalanen, ihren Traditionen, ihrer Küche und ihrer Gastfreundschaft machen. Ich vermute ja, dass sie sehr positiv überrascht sein werden von einer wunderschönen Region, die man in Deutschland so oft schon zu kennen glaubt. Meistens wird Katalonien mit seinen Naturlandschaften, seiner Gastronomie, seiner Geschichte und seinen Menschen nämlich noch immer total unterschätzt.
Natürlich gibt es bei den ZEIT Reisen noch viele andere, auch sehr spannnend klingende Reiseziele. Hier findest Du schon mal das Programm für 2020 und den Beileger ZEIT REISEN – Katalonien.
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