Weiße Wolken reichen bis zum Boden. Im morgendlichen Nebel sehe ich die Hand vor Augen nicht. Doch irgendwie finde ich den kleinen Parkplatz mitten im Wald. Außer mir und ein paar Vögeln ist hier niemand. Es ist ja auch noch früh am Morgen. Da kommt Jean François gutmütig gemütlich in Gummistiefeln um die Ecke gebogen. Mit ihm bin ich hier verabredet, denn er ist einer der Verantwortlichen der Réserve Naturelle de Beauguillot.
Auf dem Weg zur ersten Beobachtungsstation in diesem weitläufigen Naturpark staune ich noch immer über den Nebel. Heute Morgen ist die Landschaft in eine dicke Schicht aus Watte gepackt. Küstennebel ist ein faszinierendes Phänomen, weil er eben nur an der Küste auftritt, während nur wenige Kilometer weiter im Inland schönster Sonnenschein vom Himmel strahlen kann.
An dem ersten Ausguck angekommen, sehe ich durch einen breiten Schlitz in der Mauer unseres Verstecks vor allem … Landschaft. Vögel kann ich weit und breit nicht entdecken. Nur ein Fuchs schleicht durch das üppige Grün, auf der Suche nach Nahrung für seine Kinder. Jean François meint, jetzt im Mai sei auch nicht gerade die beste Jahreszeit. Wenn ich Tiere sehen wollte, müsste ich im Herbst wiederkommen, dann sei hier Hochsaison im Beauguillot. Der Naturpark ist nämlich eine der Anlaufstellen für Zugvögel. Aber auch Seehunde sollen sich hier herumtreiben. „Mal sehen ob wir heute welche entdecken, bei dem Nebel“, lacht er.
Die heutigen Wiesen und Grünflächen des Naturparks standen ursprünglich einmal alle Unterwasser. Ganz ähnlich wie auf Texel, haben die Menschen dem Meer hier ein paar Kilometer Land abgerungen, um darauf Getreide anzubauen. Im neunzehnten Jahrhundert ließ also ein wohlhabender Gutsbesitzer das Land trockenlegen. Die Bauern bewirtschafteten dann die Felder und legten die Äcker an. In den siebziger Jahren gehörte die Gegend schließlich einem gewissen Monsieur de Boislambert, einem reichen normannischen Aristokraten, der das eingepolderte Land lange Zeit als privates Jagdgrundstück genutzt hatte.
Während des Zweiten Weltkriegs kämpfte Monsieur Boislambert in der Résistance. Er war ein Mitstreiter und Freund General de Gaulles. Nach dem Krieg gab der wohlhabende Adlige dann die Jagd auf. Das Land war sich selbst überlassen, die Natur blühte, wuchs und gedieh. Es dauerte nicht lange, bis sich immer mehr Vögel in der naturbelassenen Gegend niederließen.
Damit die Natur auch nach seinem Tod ihre Ruhe haben sollte, beschloss Monsieur Boislambert sein Grundstück zu einem Naturpark erklären zu lassen. Mit seinen Kontakten in die höchsten politischen Kreise des Landes kamen bald schon ein paar Verantwortliche aus Paris angereist. Die stellten sogleich fest, dass ein breiter Küstenstreifen vor seinem Grundstück bereits ein erklärtes Marines Schutzgebiet war, und fassten kurzerhand beides zu einem einzigen großen Naturschutzgebiet, der Réserve Beauguillot, zusammen. „Demnächst wird auch noch das südliche Polderland zum Park erklärt werden“, hofft Jean François jedenfalls.
Diese Welt im Nebel, so weiß und unwirklich. Die Nebelschwaden verleihen der Landschaft etwas Mysteriöses, Geheimnisvolles. Wenn ich nicht genau wüsste, dass ich hier in der Normandie bin, könnte ich ebenso gut auf der anderen Seite des Ärmelkanals sein. So wie hier stelle ich mir das englische Moor vor, von dem in meinen Lieblingskrimis so oft die Rede ist. Eine Welt in Schwarz-Weiß mit viel Moor und noch mehr Nebel.
In der Ferne grasen friedlich ein paar Kühe und lassen sich das saftige Gras schmecken. Obwohl das Gelände hier zum Naturpark erklärt wurde, gibt es dennoch auch eine landwirtschaftliche Nutzung der Flächen, erklärt Jean François. Natürlich müssen sich die Landwirte und die Parkverwaltung auf gemeinsame Ziele einigen, damit alle etwas von diesem Fleckchen Natur haben. Die Bauern müssen strenge Auflagen erfüllen, und dürfen zum Beispiel keine Antibiotika oder Chemikalien einsetzen. Sehr gern gesehen ist es von den Parkwächtern, wenn sie Kühe und Pferde hier weiden lassen, denn dadurch, dass die jeweils ganz unterschiedliches Gras fressen, können sich Ungeziefer und Schädlinge nicht so gut verbreiten. Sehr behutsam versucht man das komplizierte Gleichgewicht der Natur möglichst intakt zu halten.
Vögel sehen wir auch nach einer halben Stunde nicht. Nur irgendwo in der Ferne hören wir eine Ente spöttisch kichern. Also halten wir nach der Seehundkolonie Ausschau, die sich hier irgendwo herumtreiben soll. Doch selbst wenn die Seehunde heute hier sind, bei dem dichten Nebel sehe ich absolut gar nichts. Die komplette Küste, das Meer, einfach alles verschwindet hinter dem weißen Vorhang vor uns.
Jean François lebt mit dem Meer und den Gezeiten. Eigentlich stammt er aus dem Süden Frankreichs, doch längst hat er sich an diese raue, mysteriöse Landschaft gewöhnt. Sie fasziniert ihn genauso wie die Menschen, die hier leben. Er erzählt von Roger, dem Kneipier, der früher ein beliebtes Restaurant in der Nähe hatte. Eine wahre Institution sei das gewesen. Die Leute aus der ganzen Umgebung kamen zum Essen. Dabei wurde im Chez Roger wahrlich keine Sterneküche geboten, nein hier ging es sehr rustikal zu.
Der gesamte Speisesaal war komplett verräuchert, wenn Roger das Lamm auf offenem Feuer briet. Genau das machte aber den Charme des Restaurants aus. Wer hierher kam, wußte, dass einem hier in aller Ruhe, ganz gemütlich etwas Herzhaftes serviert werden würde. Jean François erinnert sich an seinen ersten Besuch in der Landgaststätte Chez Roger. Er war neu in der Gegend und wollte „nur schnell was essen“. Schroff wurde er von Roger darauf hingewiesen, dass er dann wohl wieder gehen müsse. Der gemütliche Parkwächter lacht bei dem Gedanken an diese erste Begegnung. Natürlich blieb er und kam danach noch oft wieder. Eine Freundschaft entstand. Doch leider hat Roger den Laden mittlerweile abgegeben und kocht nicht mehr selbst. Zu schade.
Gemeinsam stehen Jean François und ich am Ufer und bestaunen den unglaublich dichten Nebel. Was macht dieser Schleier wohl mit den Menschen, die hier leben? Alles, was mehr als ein paar Meter entfernt ist, verschwindet einfach. Die Welt endet einfach an einer weißen Mauer. „Brouillard sagen sie an Land. Wir nennen das brume de mer“ korregiert mich Jean François, den Blick nach vorn, ins Weiß gerichtet. Dann ist wieder alles still.
Infos Naturpark Beauguillot
Réserve Naturelle Domaine de Beauguillot
Parc Naturel Regional des Marais du Cotentin et du Bessin
23 Village Ponts d’Ouve
Saint Côme du Mont
50500 Carentan les Marais
Infos zu den Naturschutzgebieten: www.reserves-naturelles.org und www.parc-cotentin-bessin.fr
Der Naturpark Beauguillot liegt im Department la Manche in der Basse Normandie. Zu der Fläche von über 500 Hektar zählt auch der berühmte Utah Beach, einer der Landungsstrände, an dem die Alliierten 1944 landeten.
Übernachtungs Tipp:
Übernachtet habe ich übrigens in einem Chambres d’hôtes in der Nähe von Carentan. Das umgebaute Manoir grenzt direkt an die Moore des Carentan. Nico, der Besitzer, stammt aus Saint Marie du Mont, einem kleinen Dorf ganz in der Nähe. Gemeinsam mit seiner Frau hat Nico nicht nur das alte Herrenhaus wieder instand gesetzt, kochen kann er auch noch. Am Abend essen wir zusammen in dem großen Saal vor dem alten Kamin und erzählt vom Leben an der Küste. Leider hatte ich nur wenig Zeit, um die Umgebung des alten Gutshofs zu erforschen. Aber die Landschaft sieht so aus, als ob man dort gut wandern oder lange Spazierengänge machen könnte …
Le Manoir de Jade et Marie
Chambres d’hôtes
Le désert
50500 Carentan
le-manoir-de-jade-et-marie
Dieser Artikel entstand im Rahmen eines Blogtrips. Vielen an Dank an Normandie Tourisme und Atout France.
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