Bigas Luna, ein katalanischer Regisseur, soll angeblich gesagt haben, dass ihn drei Dinge in seinem Leben fasziniert hätten, nämlich die Calçots, der Porró und die Castellers. Eines haben diese drei gemeinsam: Sie kommen aus der Erde und lassen den Blick gen Himmel steigen. Zwei davon, nämlich Calçots und Castells hatte ich im Kopf, als ich nach Valls kam: Die kleinen Winterzwiebeln, die bei einer Calçotada die dunkle Jahreszeit verschönern, und die spektakulären Menschentürme. Dafür ist die kleine Stadt Valls nämlich in Katalonien berühmt.
Und dann war ich ehrlich überrascht, was es noch alles zu finden gab.
Es ist nicht unbedingt die malerischste Altstadt, wie auf hübschen Postkarten, aber dafür ein sehr authentisches historisches Zentrum, das uns in Valls empfängt. Zu Fuß laufen wir zunächst einfach bergauf Richtung Kirchturm, denn in der Nähe der Kirche findet sich fast immer ein netter Platz mit einer Bar oder einem Café. Auch in Valls müssen wir nur noch um die Ecke biegen, schon stehen wir auf der Plaça del Blat, dem Getreideplatz, direkt vor dem Rathaus. Noch während wir in der kleinen Bar frühstücken, erinnere ich mich an Fotografien, die genau diesen Platz zeigen, davor eines der Castells, ein Menschenturm, dessen oberste Etage bis weit über den Balkon des Rathauses reicht.
Ein paar Meter weiter in der Oficina de Turisme zeigen prompt zwei große Fotos genau diese Ansicht, ein Castell mit dem Rathaus als Hintergrund. Aufgrund der Corona-Schutzmaßnahmen können leider noch keine Castells errichtet werden. Alle Aktivitäten der Colles müssen derzeit ruhen, bis die Lage wieder entspannter ist. Für die Castellers ist es eine heftig lange Zeit, in der sie nicht trainieren können.
Als Olga uns ihr Valls zeigt, entdecken wir also ganz andere Gesichter der kleinen Stadt. Besonders schön finde ich die Kunstwerke auf offener Straße. „Florits. Art al Barri“ heißt die einmal im Jahr stattfindende Aktion, bei der leere Wände mit bunten Bildern neu gestaltet werden. Alba Fabre und Antonio Valadés gehören zu den Künstler:innen, die diese Einladung angenommen haben. Von ihnen stammt das Wandbild, das die Frauen ehren soll, die hier viele Jahre lang in der Textilindustrie arbeiteten. Eine Hommage an unzählige, namenlose Arbeiterinnen. Etwas weiter entdecke ich noch andere Bilder und klatsche innerlich Beifall. Die übergroßen Fotografien erinnern an zwei Einwohnerinnen aus Valls, eine Pionierin der Lüfte und eine Wissenschaftlerin.
Nur wenige Schritte weiter führt uns Olga in eine ganz andere Welt. Acht Meter geht es hinab in die Tiefe, in ein Kellergewölbe, das die Menschen vor den Bomben der Legion Condor schützen sollte. Die unterirdischen Gewölbe und Tunnel erinnern an dunkle Zeiten in der Geschichte der Stadt. Der erste Raum, den wir betreten, ist ein Keller in dem der Erzbischof im 14. Jahrhundert die an ihn entrichteten Abgaben aufbewahrte. Da dieser „Kirchenzehnte“ meist in Form von Getreide oder Lebensmittel gezahlt wurde, brauchte man ein kühles Gewölbe. Heute erinnern vier Vitrinen an vier wichtige Epochen: die der Zweiten Spanischen Republik 1931-1936, die Zeit des Bürgerkriegs 1936-1939, die Zeit der Diktatur Francos 1939-1976 und die ersten freien Wahlen in Spanien 1977.
Das Refugi Antiaeri wurde während des Spanischen Bürgerkriegs errichtet, als die Stadt erfuhr, dass sie auf einer schwarzen Liste möglicher Ziele der Legion Condor stand. Eilig begann man unterhalb der Plaça del Blat Schutzräume auszuheben. Als die Sirenen ertönten, um die herannahenden deutschen Flugzeuge anzukündigen, fanden 150 Menschen in dem unterirdischen Bunker Platz. Doch das Refugi war noch nicht fertiggestellt. Es gab kein Wasser, keine Toiletten, es gab nichts.
Während die Menschen drei Tage lang warteten und draußen die Bomben explodieren hörten, gruben die Männer weiter an den unterirdischen Stollen. Doch Valls hatte Glück. Die Bomben zerstörten zwar den von der Roten Armee zur Unterstützung der republikanischen Kräfte genutzten Flugplatz vor den Toren der Stadt, doch die Menschen blieben verschont. Bis zum Ende des Spanischen Bürgerkriegs und dem Sieg Francos, nutzten deutsche Flugzeugstaffeln das kleine Aerodrom anschließend noch ein Jahr lang.
An der Plaça del Blat liegt das Rathaus, vor dem bei festlichen Angelegenheiten die Castells errichtet werden. In Valls gibt es zwei Colles, die Colla Joves und die Colla Vella, die seit vielen Generationen Menschentürme bauen und beide auf eine stolze Geschichte erfolgreich errichteter Castells zurückblicken. Die Eröffnung des bereits fertig gestellten Museums Món Casteller musste leider wegen der Covid-Pandemie auf 2022 verschoben werden. Aber die Ausstellung soll sehr spannend und interaktiv gemacht sein und die Menschen wirklich in die Welt der Menschentürme mitnehmen.
Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts wurden die Menschentürme, so wie wir sie heute kennen, erfunden. Von Valls aus verbreitete sich die beliebte Tradition bald in ganz Katalonien. Die Bedeutung der Castells wird aber erst klar, wenn man versteht, dass es um mehr geht, als um Nervenkitzel und Akrobatik. Natürlich ist die richtige Technik ein entscheidender Aspekt, fast noch wichtiger sind aber die Werte, die mit dieser Gemeinschaftsaktivität einhergehen. In einer Colla kann jede:r mitmachen, alle finden einen Platz, egal ob klein oder groß, dick oder dünn, alt oder jung. Wenn eine Colla mit dem Aufbau des Castells beginnt, sind gegenseitiges Vertrauen und Solidarität wichtig. Gemeinsam stark zu sein, im richtigen Moment Mut zu zeigen, ohne jemals leichtsinnig zu werden. Angesichts einer Gefahr Ruhe zu bewahren und vernünftig zu reagieren. Anselm Clavé brachte die Philosophie der Castells auf den Punkt: Kraft, Ausgewogenheit, Mut und Vernunft (Força, Equilibri, Valor i Seny), so lautet heute das Motto aller Castellers.
An der Plaça del Oli treffen wir Lisard. Der hat hier an dem Platz, auf dem jeden Mittwoch der Markt stattfindet, einen kleinen Laden eröffnet, in dem er nicht nur gefühlte 1000 Sorten Vermut verkauft, sondern auch andere altmodische Dinge und Getränke, die die Katalanen in eine wehmütige Vintage-Atmosphäre versetzt. In seinem Magatzem del Vermut verkauft er aber nicht nur Vermut aus aller Welt, sondern auch aus eigener Produktion.
Nach dem Rezept seines Großvaters stellt er nur mit Produkten aus der Region den Vermut Montseta her. Es gibt roten, weißen und Rosé, den wir gleich verkosten dürfen. Die beiden roten Versionen schmecken super lecker und schwer, der weiße ist angenehm frisch. Aber einen Aperitif wie den Rosé habe ich noch nie probiert. Der Geschmack von Zimt und Kirsche macht sich in meinem Mund breit. Kein Wunder, dass Lisard schon ein paar Preise abgeräumt hat.
Noch besser finde ich, dass er in den angesagten Vermuterias Barcelonas sein Produkt nur noch ohne Etikett ausschenken lässt. Die Nachfrage nach Montseta schoss so dermaßen in die Höhe, dass Lisard die Produktion hätte umstellen müssen, um mehr Liter herstellen zu können. Doch er entschied sich gegen das Expandieren. Lisard wollte lieber seinem Konzept von Nachhaltigkeit treu bleiben und stellt einfach weiterhin mit feinen, ausgewählten Zutaten eine kleine Menge her, die er in seinem Laden und auf seiner Website verkauft.
Wo wir gerade bei kleinen Läden sind, es gibt nicht mehr viele Geschäfte, die Espardenyes verkaufen, geschweige denn anfertigen. In dem kleinen Schuhladen Calçats Alentorn werden die traditionellen Schuhe von Hand genäht. Da gibt es geschnürte Schuhe in bunten Farben, eine mit vielen Rüschen versehene Version für die Braut und kleine niedliche Espardenyes für Kinder. Bis heute gehören in Valls übrigens blau gebundene Espardenyes zur Galauniform der Mossos d‘esquadra.
Infos Valls
Ich bin wirklich erstaunt wie viele kleine Geschichten es hier zu entdecken gibt. Olga, mein Guide, lacht und sagt, sie könne zu jedem einzelnen der Gebäude, die sie uns gezeigt hat, eine ganze Führung machen. Und ich habe Euch noch nicht einmal alles erzählt, was wir in Valls gesehen haben …
Kirchen:
Zwischen den Häuserfassaden der Altstadt versteckt sich recht unauffällig die Capella del Roser aus dem 17. Jahrhundert. Die kleine Kirche ist relativ schmucklos, doch die Wände sind mit überdimensionalen Mosaiken aus bunten Keramikkacheln geschmückt. Auf der linken Seite wird die Entstehung der Liga Santa, der Heiligen Allianz von Papst Pius V, Venedig, Genua und Spanien dargestellt, die bei der Schlacht von Lepanto gegen das osmanische Reich kämpften. Don Juan de Austria sollte die spanische Armada zum Sieg führen. Auf der rechten Seite ist ebendiese Schlacht ausführlich dargestellt.
Bevor ich mich wunderen kann, wieso eine so blutige Schlacht die Kirchenwände ziert, weist Olga auf die Darstellung der Madonna mit Kind in der oberen Ecke des Mosaiks hin. Das Kind auf dem Schoss der Madonna bläst seine Wangen auf. Die Abbildung soll den Wind darstellen, der während der Schlacht so heftig zugunsten der Heiligen Allianz wehte, dass sie den Sieg über die osmanische Flotte davon tragen konnte. Zum Dank und als Erinnerung an dieses Wunder wurde der Augenblick, in dem Nostra Senyora del Roser in die Schlacht eingriff, als Legende an der Kirchenwand festgehalten.
In der Esglesia de Sant Joan Baptista bewundern wir die riesige nagelneue Orgel, das Altarbild aus Holz, das das Leben Johannes des Täufers zeigt, und die Mare de Deu de la Candela. Nur alle 10 Jahre darf die kleine Madonnenstatue ihre kleine Nische verlassen, dafür wird sie dann ein ganzes Jahr lang mit Blumen geschmückt und veehrt. Normalerweise gibt es eine besondere Prozession und ein 10 Tage dauerndes Fest zu ihren Ehren, denn die Muttergottes rettete die Stadt einst vor der Pest.
An der Seite der Kirche ragt der Glockenturm in den Himmel. „El Campanar“ ist mit seinen 74 Metern der höchste Kirchtum Kataloniens. Allerdings wird der Hauptturm der Sagrada Familia ihm diesen Titel wohl eines Tages abspenstig machen. La Giralada in Sevilla ist jetzt schon höher.
Das umwerfend bauliche Meisterwerk ist allerdings sehr viel jünger als die Kirche. 1897 wurde der Turm nicht aus massivem Stein, sondern aus Eisen gebaut, damit er dem Wind standhalten kann. Diese Eisenkonstruktion ist geschickt hinter neogotischem Mauerwerk versteckt, damit der Campanar besser zur Kirche passt.
Calçots:
Valls hat seine Hauptsaison im Winter. Am letzten Sonntag im Januar findet die traditionelle Calçotada statt, bei der die calçots, das ist eine Art Frühlingszwiebeln, die im Winter geerntet werden, auf den Grill kommen. Dazu gibt es eine leckere Salsa. Calçots richtig zu essen ist gar nicht so leicht. Deswegen werden in Restaurants immer Lätzchen bereitgelegt. Aber ein paar Flecken gehören einfach dazu. Von Valls aus hat dieses lustige Winterfest ganz Katalonien erobert.
Nützliche Adressen:
Món Casteller
Plaça del Blat, 5
43800 Valls
Website: www.museucasteller.cat
Das Museum soll 2022 eröffnet werden. Die beiden Collas in Valls haben jeweils eigene Zentren und eigene Webseiten: www.collavella.cat und www.collajoves.com.
Magatzem del Vermut
Carrer de la Peixateria, 19
43800 Valls
Website: vermut.shop
Calçats Alentorn
Carrer Sant Antoni, 40
43800 Valls
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