Sonntagmorgen in Neapel. Die Glocken läuten. Von allen Seiten schallen sie durch die kleinen Gassen im historischen Viertel der Altstadt auf mich ein. Und die Menschen strömen wirklich in Mengen in die Gottesdienste hinein oder heraus. Es ist richtig voll in den Straßen.
Vor ein paar Jahren ist mein Großer von einer Klassenfahrt nach Hause gekommen „Mama, den Cristo Velato musst du dir ansehen! Der ist echt unglaublich!“ So total begeistert war mein damals zwölfjähriger Knirps von dieser Skulptur, dass ich mir das natürlich auch unbedingt einmal ansehen wollte. Es hat dann allerdings doch noch ein paar Jahre gedauert. Aber nun hat es endlich geklappt. Mit einem Ticket in der Hand stehe ich neben meiner Freundin Laura vor der Tür der kleinen Kapelle, in der der Cristo Velato zu sehen sein soll. Und ich muss zugeben, ich habe ein bisschen Angst, vielleicht gar nicht so begeistert zu sein.
Die Kapelle ist ziemlich klein. Gleich in der Mitte liegt unübersehbar die verhüllte Figur des Christus. Wie ein durchsichtiger Schleier überzieht ein Hauch von einem Tuch aus Stein den Leichnam. An den Händen kann ich die Adern und sogar die Löcher der Nägel, mit denen Jesus ans Kreuz genagelt wurde, sehen. Auch ohne besonders Ahnung von Kunstgeschichte zu haben, bin ich schwer beeindruckt. Wie fein und detailliert jede kleine Falte und jede noch so kleine Unebenheit dargestellt sind – und das alles aus Stein! Der Cristo Velato sieht fast „echt“ aus. Den Namen des Bildhauers muss ich noch mal nachschlagen: Giuseppe Sanmartino. Außer dem Cristo Velato hat er allerdings auch nicht viele bekannte Werke geschaffen. Genau genommen gar keins mehr. Der Cristo blieb sein einziges Meisterstück. Und was für eins. Sogar ich kleine Schwatztasche bin ganz still und andächtig geworden.
An den Seitenwänden entdecke ich noch zwei weitere spannende Skulpturen: Eine stehende Frauenfigur, die ebenfalls ein hauchdünnes Stück Stoff aus Stein bedeckt, und ein Typ mit Netz in der Ecke. Auf der rechten Seite führt eine Treppe nach unten. Dort stehen in einer Vitrine aufgebahrt die Überreste zweier menschlicher Körper. Diese macchine anatomiche sind allerdings keine einfachen Skelette, sondern Knochen und Blutgefäße, die irgendwie mit Hilfe von Drähten zusammengehalten werden. Das ganze „Arrangement“ ist so lebensecht dargestellt, dass ich noch deutlich erkenne, dass es sich um einen Mann und eine Frau gehandelt haben muss. Wie zum Kuckuck haben sie das denn hingekriegt? An einer Wandtafel stehen zwei mögliche Erklärungen. Entweder habe der Wissenschaftler damals eine Flüssigkeit in die Adern der Toten gespritzt, die diese Blutgefäße so verhärteten, dass er nur noch das Fleisch abschaben mußte und dann die heute sichtbare Struktur erhielt, oder – und das ist die zweite Möglichkeit, es handele sich nicht um echte Blutgefässe, sondern eine naturgetreue Nachbildung. Aber so wirklich sicher, weiß das scheinbar niemand. Schon leicht gruselig muss ich sagen. Wer kommt denn bloss auf solche Ideen.
Während alle still die Texte auf der Wandtafel lesen, schreit plötzlich irgendwo weiter oben jemand. Es ist eine schimpfende Frau. Sie schreit auf Italienisch und ist über irgend etwas oder irgend jemanden sehr entrüstet. Erst als ich die Treppe auf der anderen Seite wieder nach oben komme, sehe ich dass die Verkäuferin im Souvenirladen schwer erbost mit einem potentiellen Kunden, oder vielleicht doch eher einem Ex-Kunden, schimpft. Ich weiß nicht, was der Herr so Unverschämtes von ihr gefordert hat, aber die temperamentvolle Dame kann sich gar nicht wieder beruhigen. Sie schimpft sogar noch weiter, als der Mann längst gegangen ist. Ganz behutsam nehme ich mir zwei Postkarten und hoffe nicht auch zum Ziel ihrer Wut zu werden. Aber scheinbar habe ich alles richtig gemacht. Ich darf bezahlen und gehe in Frieden.
Nicht weit von der Sansevero Kapelle mit dem Cristo Velato gibt es noch mehr Kirchen im Gewimmel der Alstadtgassen. Laura meint, das Kloster Santa Chiara sollten wir uns unbedingt ansehen. Ich bin natürlich dafür und gehe mit. Als wir den Kreuzgang betreten, huscht gerade ein Mönch an mir vorbei und verschwindet auch schon wieder in einer Tür. Hier leben also noch echte Mönche. Dann erst sehe ich mir den grün und gelb blühenden Innenhof genauer an. Ein wahrer Wald aus gelb-grünen Säulen und Bänken leuchtet mit jungen Zitronenbäumen um die Wette. Es erinnert mich ein wenig an den Parc Güell in Barcelona, nur dass hier nicht alles wild und kunterbunt ist, sondern alles in denselben, frischen, frühlingshaften Tönen glänzt. Statt der Mosaike aus farbenfrohen Scherben werden auf den Bänken hier mi Kloster vollständige Bilder dargestellt. Ich gehe den Weg zwischen den Säulen an den Bänken entlang und schaue mir die Motive an. Es sind Darstellungen aus dem Klosterleben, gemischt mit kirchlichen Motiven und ein paar ganz alltäglichen Szenen.
Auf der anderen Seite des Kreuzgangs befindet sich der Eingang ins Museum des Klosters. Von der angekündigten archäologischen Fundstätte ist allerdings nicht besonders viel zu sehen. Das heißt, die Grabungsstätte an sich sieht man natürlich schon, nur erkenne ich leider zwischen all den Balken und Metallträgern nicht so wirklich viel von den Resten der Therme. Die Archäologen arbeiten halt immer noch daran, die römischen Bäder, die einmal an dieser Stelle, an der sich heute das Kloster befindet, standen, behutsam wieder ans Tageslicht zu befördern.
Schräg gegenüber der Basilica di Santa Chiara befindet sich die Chiesa Gesu Nuovo. Von außen sieht sie sehr modern aus. Die Außenfassade ist mit kleinen, grauen Pyramiden gespickt. Mein erster Gedanke ist … ein Eierkarton. Komische Dekoration für eine Kirche. Ich bin echt voll erstaunt als Laura meint, diese Kirche sei wirklich alt und kein modernes Gebäude. Zum Beweis gehen wir rein, so ein paar Schritte, nur um einen Blick ins Innere zu werfen. Gerade findet ein Gottesdienst statt. Wir stehen also ganz leise neben dem im Eingang und lauschen und gucken. Die Kirche sieht von drinnen genau so aus, wie barocke Kirche nun mal so aussehen. Sie ist mit reichen Goldverzierungen geschmückt und viele Engelchen lugen hier und da aus den Ecken. Das passt so gar nicht zu der neutral-vernünftigen Frontseite. Aber spannend. Sachen gibts.
Ach und einen Dom haben sie in Neapel übrigens auch:
Fotos aus dem Kloster der Chiesa Santa Chiara:
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